Mutsammlerin steht auf einer hohen Brücke

Wenn ich an das Jahr 2023 denke, ist das eher von Negativem geprägt. Kaum ein schmerzfreier Tag. Meine Rheuma-Diagnose. Viele Ängste. Viel Überforderung. Mit dem Tanzen aufhören müssen. Kaum noch Sachen machen können, die mir Spaß machen. Viele negative Gedanken. Vielleicht ist es deshalb erst recht wichtig, dass ich mir jetzt Zeit nehme, um mir meine Mutmomente aus diesem Jahr in Erinnerung zu rufen.

Das Jahr fing für mich mit großen Herausforderungen an, die viel Mut gekostet haben. Im Rahmen meines Volontariats war ich für vier Wochen bei einer Schulung in Essen. Fremde Menschen, fremde Umgebung, in einer neuen Gruppe einfinden und durch mein Arbeitsfeld direkt die Außenseiterin der Gruppe sein. Das war nicht leicht, aber ich habe es geschafft! Parallel dazu habe ich im Januar einen weiteren großen Schritt gewagt – ich bin bei meiner Familie ausgezogen und wieder in eine WG. Auch das hat viel Mut gebraucht. Nicht nur für diesen Schritt, sondern auch immer wieder im WG-Leben.

Meine soziale Angststörung hält mich meistens davon ab, alleine irgendwo hinzugehen. Im Februar habe ich mich dann trotzdem getraut, mir eine Karte für eine Lesung zu kaufen. Alleine. Die Lesung war sehr schön und berührend und ich war sehr froh, dass ich mich getraut habe, hinzugehen.

Im März musste ich zusammen mit meinem Mitbewohner eine*n neue*n Mitbewohner*in suchen. Für mich war das ziemlich anstrengend, immer wieder neue Menschen kennenzulernen und Smalltalk führen zu müssen. Das hat immer wieder Mut gekostet und ich war ziemlich froh, als wir uns dann entschieden hatten.

Seit ich in meinem WG-Zimmer wohne, habe ich auch endlich wieder Platz zum Puzzeln. Das Jahr über sind auch einige Puzzle neu bei mir eingezogen. Die meisten habe ich gebraucht gekauft – zu einem fremden Menschen zu fahren und der Person das Puzzle abzukaufen, war jedes Mal ein Mutmoment! Außerdem bin ich im April zusammen mit meiner Schwester zur Leipziger Buchmesse gefahren. Großes Highlight dort: Sebastian Fitzek getroffen!

Im Mai gab es im Stadttheater hier eine große Tanzgala. Bei einem Stück durfte auch ich mittanzen. Es war ganz schön aufregend, zwischen all den Profis mit auf der Bühne tanzen zu dürfen. Außerdem habe ich mich im Mai dazu entschieden, seit Jahren mal wieder meinen Geburtstag mit Freund*innen zu feiern. Auch wenn ich nur Leute eingeladen habe, die ich gerne mag und mit denen ich gerne Zeit verbringe, war es trotzdem irgendwie herausfordernd für mich, weil die sozialen Ängste in Gruppen einfach immer direkt recht stark sind.

Der Juni hat dann endlich eine Erklärung für meine Schmerzen gebracht. Und auch für weitere Symptome, die ich niemals damit in Verbindung gebracht hätte. Sjögren-Syndrom. Eine der seltenen rheumatischen Erkrankungen. Eine Diagnose zu haben, war erleichternd, aber auch überfordernd. Ich war ganz froh, dass ich schon einen Bezug zur Selbsthilfe hatte, denn so konnte ich direkt den Kontakt zu anderen Betroffenen suchen und mich dadurch weniger allein fühlen. Einen Ort zu haben, an dem ich auch alle möglichen Fragen stellen kann, hat mir auch etwas Sicherheit gegeben. Seitdem brauchte es unheimlich viel Mut, bei etlichen Ärzt*innen anzurufen, um Termine auszumachen – falls man Glück hat und die Ärzt*innen noch neue Patient*innen aufnehmen – und diese wahrzunehmen.

Im Juli bin ich mit Dickdarmlos nach Kassel zum Kämpferherzen-Treffen gefahren. Das war ganz schön reizüberflutend, aber auch eine schöne Zeit. Im August bin ich mit meinem Freund nach Obermaiselstein gereist. Es war ein toller Urlaub mit vielen Mutmomenten. Denn jede Fahrt mit der Seilbahn hat mich Mut gekostet! Und auch beim Wandern musste ich mich immer wieder überwinden, einen Schritt weiterzugehen – vor allem, wenn es bergab ging. Aber es hat sich gelohnt und ich war danach jedes Mal froh, mich überwunden zu haben.

Der September hat vor allem viele alltägliche Mutmomente mit sich gebracht: mit Freund*innen treffen, in Videokonferenzen etwas sagen, Spiegel- und Körperbildübungen in der Therapie, Pausen machen und den Alltag leben. Im Oktober bin ich zur Frankfurter Buchmesse gefahren. Zunächst erstmal alleine. Das hat dann auch wieder ganz schön viel Mut gebraucht, um alleine über die Messe zu laufen. Außerdem bin ich alleine nach Wiesbaden gefahren und von dort am Rhein entlang nach Mainz gelaufen. Danach ist zum Glück mein Freund nach Frankfurt gekommen und wir konnten das Wochenende zusammen auf der Messe verbringen.

Im November stand ich ein letztes Mal für dieses Jahr auf der Bühne. Das Tanzzentrum, bei dem ich tanze bzw. getanzt habe, hatte seine große Schulaufführung. Ich musste mir schon seit längerem eingestehen, dass ich mit dem Tanzen aufhören muss. Die Schmerzen sind einfach zu stark. Auch mit regelmäßigen Pausen während des Trainings war es nicht wirklich machbar. Ich wollte aber unbedingt noch diese Aufführung mittanzen. Es war ein Kampf, aber ich habe es geschafft. Und ich bin dankbar, dass ich das als Abschluss noch miterleben durfte.

Ich übe mich noch in Akzeptanz, dass das Tanzen für mich nicht mehr möglich ist. Ich hoffe zwar, dass es irgendwann wieder möglich sein wird, aber in naher Zukunft wird das nicht der Fall sein. Es ist ziemlich schwierig für mich, damit umzugehen. Das hat leider auch wieder einen Einfluss auf mein Essverhalten. Doch im Dezember hatte ich einen riesigen Mutmoment, was dieses Thema angeht: Ich habe eine Ernährungsberatung in Anspruch genommen und werde im neuen Jahr auch noch einen weiteren Termin wahrnehmen. Schon lange war mir eigentlich klar, dass das mal sinnvoll wäre, aber ich hatte auch Angst davor. Weil es unangenehm für mich ist, über mein Essverhalten zu sprechen und mit viel Scham verbunden. Aber gerade auch durch das Rheuma war ich komplett verunsichert und mit dem Essen überfordert, deshalb bin ich froh, dass ich jetzt endlich genug Mut hatte, um mich darauf einzulassen.

Ich weiß jetzt schon, dass es im nächsten Jahr viele große Mutmomente geben wird. Das macht mir Angst. Aber irgendwie werde ich auch das schaffen. Hoffe ich. Ich muss vor allem weiterhin versuchen, mich immer wieder an die kleinen Mutmomente im Alltag zu erinnern und daraus Kraft schöpfen. Und lernen, nachsichtiger mit mir zu sein. Mir Pausen zu nehmen und gut für mich zu sorgen.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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