Wenn ich an das Jahr 2022 denke, habe ich ganz schön viele Mutmomente vor Augen. Ich habe Sachen geschafft, von denen ich niemals gedacht hätte, dass ich sie schaffen könnte. Vieles war mit riesigen Ängsten verbunden und trotzdem habe ich immer wieder den Mut gefunden, mich den Herausforderungen zu stellen – oder mir Hilfe zu suchen. Ich habe tolle Menschen kennengelernt und einige davon ganz doll in mein Herz geschlossen.

Mein Jahr ist im Januar mit vielen Proben im Stadttheater gestartet. Ich durfte als Statistin in der Oper La Bohéme mitwirken und nach längerer Zeit endlich wieder auf der Bühne stehen. Das war sehr aufregend, aber auch sehr schön! Außerdem durfte ich bei ein paar Interview-Formaten auf Social Media zu Gast sein, um über meine Angststörung zu sprechen. Das ging im Februar dann auch so weiter. Nebenbei steckte ich in den letzten Zügen meines Studiums und habe Ende des Monats meine Masterarbeit abgegeben. Das war eine ganz schön große Erleichterung!

Doch komplett geschafft war es damit leider noch nicht. Es fehlte noch ein Kolloquium, in dem ich Fragen zu meiner Masterarbeit und zu weiteren Themen beantworten musste. Für mich war die mündliche Prüfung durch die sozialen Ängsten eine noch größere Herausforderung. Aber irgendwie habe ich es geschafft und Ende März dann die Gewissheit gehabt: Ich habe meinen Masterabschluss geschafft!

Zur Belohnung habe ich Anfang April dann eine Woche Urlaub gemacht. Alleine. Das war auch ziemlich herausfordernd. Und weil ein Urlaub alleine noch nicht schwierig genug ist, habe ich auch noch eine Mini-Rundreise von Lüneburg über Lübeck nach Cuxhaven gemacht. Ich musste mich also immer wieder der Herausforderung stellen, in der Unterkunft einzuchecken und mich dort zurechtzufinden. Mitte des Monats hat dann der Ernst des Lebens begonnen – ich habe mein zweijähriges Volontariat im Bereich Presse/Öffentlichkeitsarbeit gestartet. Das war ziemlich aufregend! Mittlerweile sind ja schon einige Monate vergangen und ich kann zum Glück immer noch sagen, dass ich mich dort sehr wohl fühle und mir die Arbeit Spaß macht. Und vor allem hätte ich bzw. hätte die Angststörung niemals gedacht, dass ich eine Stelle finden werde und dann auch noch eine, die mir so gut gefällt.

Im Mai standen dann die nächsten Proben im Stadttheater an, denn ich wurde als Statistin für die Oper Die Entführung aus dem Serail genommen. Vor allem auf dem Weg zum Casting habe ich mich durchgehend gefragt, wieso ich mir solche herausfordernden Situationen immer wieder antue und ich wäre fast wieder umgekehrt. Doch ich bin froh, dass ich es nicht gemacht habe, denn so konnte ich andere Statistinnen nach mehreren Jahren wiedersehen und weitere kennenlernen. Und natürlich im rosa Kleidchen über den Wald auf der Bühne stolzieren, um den Belmonte zu verführen.

Getanzt habe ich während der Zeit auch immer mal wieder – zumindest, wenn gerade keine Proben im Theater anstanden. Im Mai und im Juni gab es dann auch jeweils eine Tanzschulaufführung – es war so schön, wieder tanzend auf der Bühne zu stehen und vor allem auch dabei zu merken, dass ich mich langsam etwas wohler mit mir selbst fühle.

Im Juli habe ich mir dann endlich wieder eingestehen können, dass es mir mental doch nicht so gut geht, wie ich es gerne hätte. Das wahrzuhaben war echt nicht so einfach und vor allem der Schritt, mir wieder Hilfe zu suchen, hat ganz viel Angst und Unsicherheit ausgelöst. Und irgendwie auch Überforderung. Alle Therapeut*innen haben andere Sprechzeiten. Die meisten liegen während der Arbeitszeit. Generell ist Telefonieren etwas, das durch die soziale Phobie ganz viel Angst macht. Dann die Enttäuschungen, immer nur Absagen zu bekommen und nur mit Glück überhaupt auf eine Warteliste gesetzt zu werden. Das hat mich ganz schön viel Kraft gekostet und mich auch bis in den August hinein beschäftigt – bis ich irgendwann keine Energie mehr hatte, noch mehr Praxen abzutelefonieren.

Aufregend gestartet ist dann der September: Ich war vor Ort bei der Auftaktveranstaltung der Aktionswoche Selbsthilfe in Berlin und stand auch mit vor der Kamera. Auch da war wieder der Gedanke da, wieso ich mir sowas antue. Doch eigentlich weiß ich die Antwort: Weil es mir wichtig ist, mich für Themen einzusetzen, die mir am Herzen liegen. Weil ich mir von der Angststörung nicht diese besonderen Momente nehmen lassen möchte. Weil ich es ja irgendwie dann doch schaffe, mutig zu sein – auch mit der Angst.

Der September hat mich danach auch noch nach Braunschweig geführt. Es war irgendwie seltsam, wieder dort zu sein – ich habe während des Studiums fast zwei Jahre dort gewohnt, aber nicht wirklich gelebt. Doch der erneute Besuch in der Stadt hat mir ein ziemlich großes Gefühl von Lebendigkeit geschenkt. Anlass meines Besuchs war ein Gastspiel von einem Tanzstück, bei dem ich eine der zwei Tänzerinnen auf der Bühne war. Gleichzeitig bot mir das die Möglichkeit, einen Freund aus der Selbsthilfegruppe wiederzusehen, der jetzt nicht mehr nur ein Freund ist, sondern mein Freund. 🙂

Das hat ganz schön viel verändert – vor allem emotional. Es folgte eine sehr aufregende Zeit im Oktober und es fühlt sich einfach schön an, jemanden zu haben, der einen liebt und den man selbst lieben kann. Auch wenn es in Büchern und Filmen leider oft so dargestellt wird, führt die große Liebe natürlich nicht zu einer spontanen Wunderheilung von psychischen Erkrankungen. Deshalb war ich sehr glücklich darüber, als ich einen Anruf meiner Therapeutin bekommen habe, in dem sie mir einen Therapieplatz angeboten hat. Und noch glücklicher war und bin ich, dass es zwischenmenschlich passt und ich mich dort sehr sicher fühlen kann.

Seit Ende Oktober bin ich jetzt gefühlt jedes Wochenende irgendwo außerhalb meiner Heimatstadt. Mehrere Ehrenamtstreffen folgten Wochenende für Wochenende und zwischendurch war ich dann noch mit meinem Freund an der Rheinschleife zum Wandern. Ich mag es, unterwegs zu sein, weil sich mein Leben dann so lebendig anfühlt. Aber gleichzeitig habe ich auch gemerkt, dass es in dieser Menge echt anstrengend und erschöpfend war. Mir fehlt(e) Zeit nur für mich. Im November ging es dann leider auch erst mal so weiter. Die Treffen waren auch wirklich immer schön und bereichernd, aber gerade für die sozialen Ängste auch immer sehr herausfordernd und allgemein auch schnell reizüberflutend.

Eine letzte Probenphase für dieses Jahr ist dann im November im Theater gestartet. Und zwar darf ich ein Teil der Tanzgruppe sein, die bei der Operette Die Fledermaus mit auf der Bühne steht und sich bewegt. Wieder sehr aufregend, aber auch sehr schön – es ist einfach ein ganz besonderes Gefühl, auf der Bühne zu stehen. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in diesem Jahr so oft die Möglichkeit dazu hatte. Anfang Dezember war dann die Premiere und im Laufe des Monats folgten einige weitere Auftritte.

Kurz vor Ende des Jahres hat sich noch eine aufregende Veränderung für das kommende Jahr ergeben: Ich habe ein WG-Zimmer gefunden und werde im neuen Jahr wieder bei meiner Familie ausziehen, um noch einmal in das WG-Leben einzutauchen. Ganz schön aufregend! Alles irgendwie. Aber auch schön.

Es war also wieder ein sehr aufregendes Jahr für mich mit einigen großen Mutmomenten und sehr vielen kleinen Mutmomenten. Denn häufig sind es für mich die alltäglichen Herausforderungen, die mehr Mut brauchen als die vermeintlich großen Mutmomente. Und eigentlich ist es ja auch egal, ob großer oder kleiner Mutmoment – jeder Mutmoment zählt!

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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