Gastbeitrag von: Lebensgestalterin

TRIGGER-WARNUNG: In diesem Text geht es auch um Suizid-Gedanken*

Es gibt da diese schöne Geschichte „Ich gehe eine Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch“ (Das Loch in der Straße). Mit der Zeit wird der Person klar, dass sie selbst beeinflussen kann, ob sie weiterhin in dasselbe Loch fällt. Zum Schluss geht sie eine andere Straße entlang. Dieses Gedicht hat mich länger beschäftigt. Ich würde gerne sagen können, dass ich das Loch schon bemerke und darum herum laufe. Die andere Straße zu nehmen, erwarte ich von mir noch lange nicht. Wäre aber künftig natürlich mein Ziel. Fakt ist: Auch nach nun fast 7-jähriger Krankheitsgeschichte und einigen Therapien habe ich trotzdem noch recht regelmäßig meine Krisen. Wie Krisen so definiert sind, treffen sie mich in der Regel recht unvorbereitet, zu ungünstigen Zeitpunkten und reißen mich mit so einer Macht nieder, dass ich meine, sie nicht überstehen zu können.

In guten Zeiten habe ich immerhin den Eindruck, „schon etwas gelernt zu haben“ und künftig „sicherlich“ besser mit schwierigeren Momenten klar zu kommen. Wenn ich genau hinschaue, ist das bestimmt auch so. Ich habe mittlerweile einen Katalog an Möglichkeiten, wie ich mich in solchen Krisen verhalten kann und wie ich möglichst unbeschadet auch wieder rauskomme. Dennoch fühlt es sich in der entsprechenden Situation nicht so an. Die neuen Handlungsalternativen scheinen meilenweit entfernt zu sein und es ist eine echte Herausforderung, auch nur Teile davon anwenden zu können.

Oft habe ich dann die Tendenz, mich so in meiner Verzweiflung einzurichten, dass ich recht bald gewillt bin, meinen Widerstand aufzugeben und der Depression „Recht zu geben“. Sie kann mich dann beherrschen, ich tue bereitwillig, was sie will. Ich übernehme ihre Sicht der Welt. Schwarz, dunkel, pessimistisch. Sie sagt mir, dass es eine hellere, freundlichere Welt nicht gibt. Zumindest nicht für mich. Es wäre also besser, einfach aufzugeben. Und ja, das ist verführerisch. All die Schmerzen und Qualen nicht mehr spüren zu müssen, wäre großartig. Die Depression verschweigt dabei aber die Nebenwirkung. Das Kleingedruckte. Die Vertragsbedingungen. Wenn ich mir diese so anschaue, merke ich, dass der „Vertrag“, den die Depression mit mir abschließen will, in Wahrheit doch nicht so toll ist. Klar, sie nimmt mir den momentanen Schmerz, aber sie nimmt mir auch all die Möglichkeiten, jemals wieder Freude empfinden zu können. Mit meiner Freundin wandern zu gehen. Den Frühlingsduft zu riechen. Zu merken, dass ich Menschen wichtig bin. Gemeinschaft zu spüren. Mich über diverse Dinge aufzuregen, die meiner Meinung nach in der Welt grundsätzlich falsch laufen. Klavier zu spielen. Mein Wissen zu erweitern.

Das Gemeine ist: Auch wenn ich um dieses Kleingedruckte weiß, weil ich es in guten Phasen erkannt habe, ist es oft wie weggeblasen, wenn die Depression es sich erst mal wieder gemütlich gemacht hat bei mir. Sie sagt mir: Also so schön sind diese Dinge, an denen du irgendwie festhalten willst, auch nicht. Oder erscheinen sie dir jetzt etwa erstrebenswert? Die Antwort darauf ist meist: Nein. Nein, sie erscheinen mir in dem Moment nicht erstrebenswert. Alles was zählt, ist, dass dieser Schmerz jetzt aufhört. Ich bin gerne bereit dazu, im Gegenzug auf sämtliche positive Ereignisse, die ich künftig noch erleben könnte, zu verzichten. Suizid scheint mir ein passabler Ausweg zu sein.

Es kostet Kraft, viel Kraft, mich täglich, manchmal stündlich wieder gegen diesen Ausweg zu entscheiden. Mich auf den ungewissen Weg im Hier und Jetzt zu machen mit der Hoffnung, von der ich in den Momenten eh wenig genug habe, dass es irgendwann besser werden kann. Irgendwann. Das ist der nächste Punkt. „Irgendwann“ ist so furchtbar unkonkret. Es kann heißen „in zwei Wochen“, oder aber auch „in fünf Jahren“. Logisch, dass dann so ein konkreter Ausstiegstermin der Depression in Form von Suizid noch attraktiver erscheint.

Aber es gibt auch die andere Sichtweise. Die, für die ich stehen will. Die, die ich verteidige, damit die Depression sie nicht völlig vereinnahmt. Ich will leben! Ich habe Einfluss darauf. Ich entscheide mich bewusst gegen Suizid. Diese Entscheidung macht mir Angst. Sie geht mit vielen Risiken einher. Aber,

und das ist ganz wichtig, sie geht als einzige Entscheidung auch mit der Möglichkeit und der Hoffnung einher, dass ich wirklich glückliche Momente erleben kann. Ich gebe mir die Chance, all die Wunder dieser Welt zu erleben. Auch wenn neben den Wundern auch Schrecken existieren. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf all das Schöne richten. Und das gibt mir die Kraft, meine Entscheidung für das Leben immer wieder aufs Neue zu treffen.

Für mich macht es einen großen Unterschied, dass ich diese Entscheidung selbst treffe. Wie oft hatte ich in der Vergangenheit die Situation, dass ich diversen ÄrztInnen und TherapeutInnen teils schriftlich, teils mündlich versichern musste, mir nichts anzutun. Für mich hatte all das wenig Bedeutung und Aussagekraft. Ich wusste, dass, sollte ich mich weigern, die Konsequenz eine Klinikeinweisung wäre, worauf ich auch nicht wirklich Lust hatte. Seit ich diese Entscheidung für mich – nicht für meine Eltern, nicht für meine FreundInnen, nicht für ÄrztInnen – getroffen habe, fällt es mir leichter, mich im Alltag auch entsprechend zu verhalten. Ich weiß, dass ich auch nett zu mir – in Gedanken und im Verhalten – sein muss, damit meine Seele gerne in mir lebt und damit mein Körper gerne mit mir zusammen ist. Wenn ich mich selbst nicht respektvoll behandle, geht es weder meiner Seele noch meinem Körper gut. Und das ist wie ein Leckerli für die Depression. Die freut sich mächtig darüber.

Was verstehe ich alles unter „nett zu mir sein“? Da gibt es ganz viel:

Auf Gedankenebene: mich realistisch einschätzen; mich, wenn überhaupt, fair vergleichen; Verständnis mit mir haben; mir ein guter Freund sein; mich ermutigen, Dinge anzupacken, vor denen ich Angst habe; viele Grautöne zulassen und nicht alles nur in schwarz und weiß denken; akzeptieren, dass viel Vergangenes schmerzhaft war; meine Gedanken lenken – Phantasiereisen tun mir beispielsweise zur Zeit sehr gut; mir Ziele geben, auf die ich hinarbeiten möchte etc.

Auf Verhaltensebene: mich gut um meinen Körper kümmern (Bewegung, Schlaf, Ernährung); mich um meine Freunde kümmern (gemeinsame Unternehmungen, sich gegenseitig ermutigen…); mir Pausen gönnen; dafür sorgen, dass ich immer gute Bücher in Reichweite habe; Pro/Contra-Listen machen und darauf achten, dass meine Handlungen „nachhaltig“ sind; Achtsamkeitsübungen machen; meine Bedürfnisse ernst nehmen etc.

Das Schöne ist: Es gibt so viel, da ist sicherlich jeden Tag etwas passendes dabei. Anfangs hat es sich für mich recht falsch angefühlt, Verständnis für mich in Krisen zu haben. Ich hatte über Jahre den Leistungsgedanken verinnerlicht, nach dem ich nur wertvoll bin, wenn ich entsprechend abliefere. So ein Quatsch!

Was ich damit sagen will: Neue Wege fühlen sich meist ungewohnt an. Aber mit der Zeit merkt man oft, dass es eigentlich doch echt guttut. Neue Wege lohnen sich. In jedem Alter. Zu jeder Zeit.

Ich bin sehr froh, die Selbsthilfegruppe hier gefunden zu haben. Sie unterstützt mich sowohl beim Erproben neuer Wege als auch in Krisen, in denen ich nicht mehr weiter weiß. Die Gruppenmitglieder sind eine echte Bereicherung für mich. Ich bin sehr dankbar dafür und kann nur jedem empfehlen, es auch mal mit Selbsthilfe zu probieren.

*Wenn du Suizid-Gedanken hast hole dir Hilfe! Die Nummer gegen Kummer oder die Telefonseelsorge: 116 111 Mo-Sa 14-20 Uhr oder 0800/1110111 rund um die Uhr oder https://www.frnd.de/hilfe/hilfsangebote-finder/

Auch zum Thema: https://www.irrsinnig-menschlich.de/hilfe/suizid/ und https://www.frnd.de/

Autor*in: Gastautor*in

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