Gastbeitrag von: Lebensgestalterin

Wozu brauche ich einen „Sinn des Lebens“? Diese Frage möchte ich im Folgenden erörtern. Abzugrenzen ist sie von der Frage „Wozu braucht man einen Sinn im Leben“. Denn diese ist für meinen Geschmack recht leicht (zumindest teil-)beantwortet: Als Ressource, um schwierige Zeiten zu überstehen. Als Ausrichtung der eigenen Handlungen. Wenn mein Sinn im Leben es beispielsweise ist, dafür zu sorgen, dass es meinen Lieben gut geht, dann werde ich entsprechend viel Zeit dafür aufwenden und auch mit ihnen verbringen. Als Verknüpfung zu den eigenen Werten.

Doch was ist jetzt der Unterschied zur Frage nach dem Sinn des Lebens? Für mich besteht der Unterschied im schwarz-weiß-Denken. Es ist für mich eine Art Ultimatum. Wenn es keinen Sinn des Lebens gibt, wozu soll ich dann überhaupt leben? Was ist es dann noch wert, wenn ich mich gut um meine Mitmenschen kümmere? Wenn wir doch eh nur Marionetten sind, die nun mal das Schicksal ereilt hat, dass sie hier und heute auf dieser Erde weilen. Dass sie damit all die Qualen, aber auch all die schönen Momente erleben. Welche Bedeutung haben die schönen Momente überhaupt noch, wenn das Leben im Großen und Ganzen doch keinen klaren Sinn hat? Wenn ich im Leben erst richtig durchstarten und es genießen kann, sobald ich den „Sinn des Lebens/Sinn meines Lebens“ entdeckt habe. Wenn davor alles wertlos ist. Schwarz eben. Wenn alles im Leben an diese Bedingung der Existenz des Sinns des Lebens geknüpft ist. Wenn ich sage: „Ohne einen Sinn des Lebens ergibt für mich nichts einen Sinn, hat für mich nichts einen Wert“.

Dann werde ich, das ist sicher, ein großes Problem mit mir und meinem Leben haben. Denn dann komme ich in schwierigen Phasen im Leben, wie sie klassisch im Rahmen einer Depression auftauchen, sehr schnell an meine Grenzen. Da bin ich dann wieder bei Suizidgedanken und der Überzeugung: „Es ist alles nur eine Qual, es gibt keinen Grund, weiter hier auf Erden zu sein“. Wozu sollte ich dann noch gegen die Depression ankämpfen? Wenn doch eh nichts eine wirkliche Bedeutung hat?

Die Antwort ist: Um all die Dinge zu erleben, die eben doch eine Bedeutung haben. Weil ich sie ihnen gebe. Weil ich beschließe, dass sie eine Bedeutung haben.

Es bringt die Menschheit kein Stück weiter, wenn ich morgens einen Spaziergang mache und mich dabei darüber freue, dass die Vögel schon aktiv sind und vor mir herfliegen. Das ist richtig. Die Frage kann aber auch sein: Muss es die Menschheit ein Stück weiterbringen, wenn ich morgens einen Spaziergang mache und mich dabei darüber freue, dass die Vögel schon aktiv sind und vor mir herfliegen?

Da kann man jetzt verschieden drauf antworten: Mein perfektionistisches, aber auch leicht depressives Ich sagt: „Ja klar, denn wenn du nicht zu jeder Uhrzeit deines Tages etwas für die Menschheit Sinnvolles machst, dann hast du kein Recht auf Leben und Sinn ergibt das dann schon zweimal keinen mehr“. Klare Sache, es handelt sich hierbei um eine Grundannahme, an der man nur scheitern kann. Man könnte schon fragen, ob man als Person dann überhaupt noch frühstücken dürfte. Ein Zugewinn für die Menschheit ist das nämlich sicherlich nicht. Eine Argumentation könnte wohlwollend so aussehen, dass wir festhalten, dass man als Mensch nun mal Energie aus Nahrung benötigt, um seine Muskeln bewegen zu können, um klar denken zu können und um mit diesen Fähigkeiten, die nur durch ebendiese Nahrungszufuhr möglich sind, im Anschluss die Welt zu retten oder diese zumindest ein kleines Stück besser zu machen. Weniger wohlwollend wäre folgende Argumentation: Eigentlich darfst du als Person keine Ressourcen verbrauchen, solange du durch deine Handlungen nicht einen deutlich größeren Gewinn erwirtschaftest. Auch hier wäre die Folgefrage: Woran misst sich der „deutlich größere Gewinn“.

Äußerst mühselig, sich endlos mit diesen Fragen im Kreis zu drehen. Zumal bei meiner Denkweise eigentlich nur rauskommen kann, dass man als Einzelperson besser damit fährt, aufzugeben, in die Vermeidung zu gehen. Auf all die schönen kleinen Momente zu verzichten. Auf all die Herausforderungen, an denen wir potenziell scheitern könnten, aber eben auch dazugewinnen könnten, zu verzichten.

Auf das Leben zu verzichten.

Doch es gibt eben auch noch die andere Möglichkeit, auf die „Spaziergang am Morgen“-Frage zu antworten: die aktiv-lebensbejahende: „Nein, es muss die Menschheit nicht weiterbringen, wenn ich meinen Morgenspaziergang absolviere. Es reicht vollkommen aus, wenn es mir danach ein kleines bisschen besser geht. Und noch nichtmal das muss sein. Es reicht, dass ich den Spaziergang gemacht habe, egal, was danach ist. Es reicht, wenn ich den Spaziergang um des Spaziergangs Willen gemacht habe. Es muss keinen tieferen Sinn dahinter geben“. Das lässt sich auch auf das Leben als Ganzes übertragen. Es ist natürlich schön, wenn ich durch mein Tun anderen Menschen helfen kann, aber es ist keine Bedingung. Es ist schön, wenn ich oft glücklich bin und mich eins mit der Natur fühle, aber auch das ist keine Bedingung. Es ist schön, wenn ich den Durchblick habe, „erfolgreich“ (was auch immer das heißen soll) bin, einen Mehrwert (was ist ein Mehrwert?) erschaffe etc.

Aber es ist keine Bedingung, damit ich Leben darf, oder damit es sich lohnt, weiter zu leben, obwohl sich gerade alles echt schwer anfühlt.

Denn wenn ich das alles zur Bedingung mache, dann werde ich nicht leben, weil die Bedingung nicht erfüllt werden kann. Schon gar nicht im Voraus. Wenn dann könnte ich als 90-jährige im Schaukelstuhl mal sagen „Seht her, das habe ich in den letzten 90 Jahren so erreicht“. Andersherum „Ich bin zwar erst Anfang zwanzig, aber ich bin sicher, ich werde noch xyz erreichen“ funktioniert das nicht.

Ich möchte mir die Chance geben, zu leben. Zu leben mit wunderbar offenem Ergebnis. Ich möchte mir die Chance geben, meinen Platz in der Welt (ma place dans ce monde) immer wieder aufs Neue zu entdecken und mir auch die Erlaubnis geben, mir diesen zuzugestehen.

Ich denke, ich habe im Grunde Angst. Angst, meinen Erwartungen an mich selbst nicht gerecht zu werden. Angst, es zu nichts zu bringen. Angst, immer wieder an depressiven Episoden zu leiden. Angst, keinen Unterschied zu machen. Angst, der Welt als Ganzes nur geschadet zu haben. Und das ist okay. Ich darf diese Angst haben, wenn sie sich für mich so real anfühlt. Aber es ist nicht mehr meine Lösung, diese Angst vermeiden zu wollen, indem ich sage: „Ich brauch einen Sinn des Lebens, nur dann kann ich weiterleben“. Es ist meine Lösung zu sagen: „Es muss für mich im Hier und Jetzt keinen Sinn ergeben. Es reicht völlig, es zu erleben und da zu sein. Ich darf auch Angst haben. Ich darf mir meinen Platz auf dieser Welt immer aufs Neue suchen und es ist vollkommen okay, wenn ich diesen aktuell nicht sehe. Es ist unangenehm, aber es ist okay“.

Und vielleicht ist mein Platz auf der Welt auch einfach da, wo ich im Moment bin. Und das ist gut so.

« Ta place dans ce monde » ist übrigens das neue Lied von Gauvain Sers. Mir gefallen seine Lieder immer sehr, weil sie oft gut meine Gedanken treffen und ich seine Sicht der Dinge sehr spannend finde.

Autor*in: Gastautor*in

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