Immer auf die Schwachen

»Sie sind immer so still. Da neigt man dazu, blöde Sprüche zu machen«, sagt der Institutsleiter zu mir. Das ist aber unfair, denke ich und schon ist der Satz aus meinem Mund gerutscht. Kurz bereue ich es, das laut ausgesprochen zu haben, aber ich finde es wirklich einfach unfair.

»Jedes Team braucht auch ruhige Menschen«, fährt der Institutsleiter fort. Das habe ich auch schon bei meinem letzten Praktikum gehört – gefolgt von dem Satz: »Für dich wird es dadurch aber auf jeden Fall sehr schwierig einen Job zu finden.« Sehr Mut machend… Aber: Wie kann es sein, dass alle davon sprechen, dass ruhige Menschen im Team wichtig sind, man als ruhige Person aber trotzdem deutlich schlechtere Chancen hat? Wieso wird Menschen, die einfach wild drauf los plappern direkt mehr Kompetenz zugesprochen als den ruhigeren Menschen, die erst einmal nachdenken bevor sie etwas sagen?!

Und wieso sucht man sich immer die Schwachen, um sie mit blöden Sprüchen zu beschießen?!

In der Uni musste ich mal zu einem Prof, um meine Hausarbeit zu besprechen. Eine halbe Stunde lang war ich in seinem Büro. Unsicher und aufgeregt ging ich hinein, mit völlig zerstörtem Selbstvertrauen ging ich später wieder hinaus. Bereits nach wenigen Minuten schweifte der Prof von der Hausarbeit ab und meinte mir Sätze wie diese an den Kopf zu werfen: »Wie konnten Sie das Abitur bestehen? Ich muss unbedingt mit Herrn G. sprechen – es kann schließlich nicht sein, dass jemand wie Sie eine Klausur an der Uni besteht. Sie werden in Ihrem Leben nichts erreichen.«

Die Sätze wurden mir nicht nur an den Kopf geworfen, sie durchstießen auch mein Herz. Dass ich die besagte Klausur mit einer 1.3 bestanden hatte, verlor komplett an Wert für mich. Ich bin einfach nicht fürs Leben gemacht, war ein Gedanke, der sich laut in meinem Kopf bemerkbar machte, als ich das Büro nach dieser halben Stunde Selbstwert-Folter endlich verlassen konnte. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, flossen die Tränen meine Wangen entlang. »Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn Sie schon drinnen angefangen hätten zu weinen?«, fragte mich meine Therapeutin einige Tage später. Weiß ich nicht. Ich denke nicht.

»Sie sind aber auch selbst daran Schuld«, sagte meine Therapeutin (die mittlerweile zum Glück nicht mehr meine Therapeutin ist). »Wenn Sie immer so ruhig sind und nichts sagen, dann provozieren Sie damit, dass andere Sie fertig machen.« Als wenn ich einfach meine Persönlichkeit ändern könnte! Denn auch wenn man die Ängste wegzaubern könnte, wäre ich noch ein ruhiger Mensch. Und damit würde ich mich vielleicht sogar wohl fühlen, wenn einem das Leben von außen nicht so erschwert werden würde. Vielleicht stimmt es, dass es bei den Menschen so eine Dynamik im Verhalten gibt. Aber das ist für mich kein Grund, dass die Starken die Schwachen noch mehr schwächen dürfen, nur um selbst immer stärker zu werden.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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