In diesem Text geht es um Missbrauch, Gewalt und Alkohol. Bei manchen Menschen kann dieses Thema negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Der November war mir schon immer ein Graus. Kalt, nass, ungemütlich. Von Sonnenlicht kaum eine Spur, der Himmel meist in fifty shades of grey. Eine kalendarische Grauzone sozusagen, zwischen goldenem Oktober und nach-Zimt-duftendem Dezember. Abgesehen von Fasching hat der Monat meiner Meinung nach nicht wirklich viel zu bieten. Fair enough, da wären noch die Leoniden, dieses alljährliche Naturschauspiel, bei dem bis zu zigtausende Sternschnuppen zu sehen sind. Die haben mich bisher aber auch noch nie vor meinem herbstlichen Stimmungseinbruch bewahrt. Spätestens ab Ende Oktober macht sich schwarze Galle in mir breit. Die Melancholie rührt hauptsächlich daher, dass ich im November Geburtstag habe und das für mich bisher kaum Anlass zum Feiern war.

Geboren wurde ich an einem Mittwoch. Je nach Horoskop bin ich ein Skorpion, eine Schlange, eine Eibe (wohlgemerkt: alles irgendwie giftig) oder ein Metall-Pferd. Ich gebe nicht so viel auf diesen mystischen Kram. Wer meine Beiträge jedoch aufmerksam liest, weiß, dass ich nur allzu gern mit unnützen Fakten um mich werfe. Bevor ich aber jetzt schon abschweife: erstmal weiter im Text.

In meiner Kindheit war mein Geburtstag quasi ein Tag wie jeder andere auch. Ich will nicht leugnen, dass auch ich das eine oder andere Geburtstagsgeschenk bekommen habe und es auch mal Käsekuchen gab. Das was mir fehlte und ich mir viel mehr gewünscht hätte, war das Gefühl, jemand freut sich, dass ich da bin, dass ich geboren wurde. Ihr wisst schon, so, wie es in diesem Geburtstagslied gesungen wird…

Glaubt man den Erzählungen meiner Familie, war ich ein sogenannter „Unfall“; ein Produkt der jugendlichen Verliebtheit meiner Mutter. Meine Großeltern waren nicht so begeistert, weil die Pigmentierung meiner Haut ein nicht zu ignorierendes Problem darstellte. Bombastische Startbedingungen also. Als mosambikanischer Gastarbeiter war mein biologischer Vater nicht gerade der Wunsch-Schwiegersohn. Da er kurz nach der Wende aus Deutschland ausreisen musste, war zumindest dieser Störfaktor recht schnell beseitigt und der einzige Bezug zu meiner schwarzen Identität aus meinem Leben verschwunden, bevor ich überhaupt von ihr wusste. Mit meiner Hautfarbe versuchen Oma und Opa heute einen „richtigen“ Umgang zu finden. Für meinen Geschmack zwar mehr schlecht als recht, aber sie bemühen sich sehr und ich hab sie lieb. Während sie ihre Abneigung gegenüber Nicht-weißen für gewöhnlich im fließenden politisch-unkorrekten Boomer-Sprech äußern, spielen sie im Kontakt mit mir immerhin das Wir-sind-farbenblind-Spiel. Wer kann‘s ihnen verübeln – ähnlich wie ich können auch sie eben nicht aus ihrer Haut.

Ich durfte nie Freund*innen nach Hause einladen, auch nicht zu meinen Geburtstagen. Vermutlich hätte ich mich ohnehin zu Tode geschämt, wenn irgendwer einen Einblick in unser Familienleben bekommen hätte. Weniger wegen der Armut, die unseren Alltag bestimmte, viel mehr wegen der Art und Weise, wie meine Mutter, meine Geschwister und ich von meinem Stiefvater behandelt wurden. Das Aufwachsen in häuslicher Gewalt besteht im Prinzip aus einer permanenten Aneinanderreihung von Desillusionen. Die Hoffnung, zumindest an meinem Geburtstag nicht angeschrien, nicht geschlagen und gedemütigt zu werden, habe ich mit spätestens 10 Jahren aufgegeben. Sehr wahrscheinlich schon früher… Ohne jetzt wie ein mitleiderregendes Kleinkind klingen zu wollen, muss ich zugeben: ein Teil von mir ist noch heute wütend darüber, dass ich keine Kindergeburtstagsfeier inklusive blinder Kuh und Benjamin-Blümchen-Torte hatte.

In meiner Jugend war ich ständig wütend. Meine Wut gipfelte in Provokationen, Gleichgültigkeit und schließlich in latentem Lebensüberdruss. Ohne Hip Hop, Grunge und Texte schreiben hätte ich die frühe Phase meiner Pubertät vermutlich nicht überlebt. Später halfen Freund*innen, feiern und 1 Jahr auf Antidepressiva. Als meine Mutter nach kurzer Zeit im Frauenschutzhaus meinem Stiefvater die 100ste letzte Chance gab, konnte ich Erwachsene endgültig nicht mehr ernst nehmen. Alles erschien irgendwie lächerlich sinnlos, erst recht meine Geburtstage. Ohne das Konzept der Wiedergeburt wirklich verstanden zu haben, war ich überzeugt davon, dass ich in einem früheren Leben jemand wie Hitler gewesen sein musste. Nur das konnte erklären, weshalb sich mein Dasein wie eine nicht enden wollende Strafe anfühlte (sorry guys, ich hatte schon immer einen leichten Hang zum Dramatischen). Meine Geburtstage wurden nur noch ein Anlass zur Betäubung. Dank Alkohol und Partys konnte ich vergessen, das schwarze Schaf der Familie zu sein. Das Vergessen hielt immer genau so lange, bis man mir am Tag darauf von meinen emotionalen Ausbrüchen und volltrunkenen Heulkrämpfen berichtete. Ziemlich unangenehm, aber auch das ließ sich mit der Zeit und mit Alkohol gut verdrängen.

Mit Anfang 20 verließ ich meine Heimatstadt und der Kontakt zu meiner Familie erreichte beinahe den Gefrierpunkt. Ich zog mit meiner besten Freundin zusammen und hatte Bock auf mein neues Leben. Meine Geburtstage wollte ich künftig richtig feiern: In einem Jahr gab es einen Kurztrip nach Amsterdam, im Jahr darauf eine fette WG-Party. Da meine besagte damalige Freundin ziemlich launisch war und irgendwann kein Geheimnis mehr daraus machte, dass sie meine übrigen Freund*innen und Arbeitskolleg*innen nicht mochte, vermied ich es in der Folge, sie zu uns nach Hause einzuladen, geschweige denn, meine Geburtstage mit ihnen zu feiern. Zu dieser Zeit registrierte ich noch nicht, wie sehr emotional abhängig ich von ihr war. Je länger wir zusammenlebten, desto mehr richtete ich unbewusst mein Verhalten nach ihr und ihren Vorstellungen aus. Gemeinsame Urlaubsziele, die nächste Renovierungsaktion oder die Anschaffung unseres WG-Hundes: alles Entscheidungen, die sie getroffen und denen ich ohne Widerspruch zugestimmt hatte. Entscheidungen darüber, was wir an meinem Geburtstag unternehmen, traf ich so, dass sie ihr gefallen würden. Ich tat das alles, um Konflikte zu vermeiden, damit der sagenumwobene Haussegen nicht schief hängt und um die Freundschaft nicht zu gefährden. Mein Therapeut meint, das könnte eine Art Reinszenierung gewesen sein. Ob nun reinszeniert oder nicht: ich hatte das Gefühl, dass es an meinem Geburtstag nicht um mich, sondern lediglich darum geht, für möglichst viel Harmonie zu sorgen. Ich wollte den Tag meiner Geburt jedes Jahr aufs Neue einfach nur schnell hinter mich bringen, ihn am besten vergessen, meine Schwermütigkeit in trockenem Rotwein ertränken.

Jetzt, da ich seit 3 Jahren wieder in meiner Heimat lebe, allein in meiner bescheidenen gemütlichen Wohnung wohne und dank Therapie und Selbsthilfe Entscheidungen treffen kann, die in erster Linie mir guttun, will ich das Geburtstagsthema nochmal neu angehen. Nach langem Zögern habe ich den Entschluss gefasst, meinen diesjährigen Geburtstag gemeinsam mit meinen Lieblingsmenschen zu feiern – schließlich gibt es ne Menge Anlass dazu. Ich will feiern, dass ich gerade einen Gig mit meiner Band hatte. Ich will feiern, dass ich im letzten Therapiedrittel bin und so enorme Fortschritte gemacht habe. Ich will feiern, dass ich mein Studium trotz unzähliger Schwierigkeiten meistere und sogar ein entferntes Licht am Ende des langen Mastertunnels sehe. Ich will feiern, dass ich meine 9 Jahre alten Dreads abgeschnitten habe und fresh ins neue Lebensjahr starte. Ich will die tollen Freundschaften feiern, die ich mit aufrichtigen Menschen pflege. Menschen, die sich freuen, dass ich geboren wurde (und hoffentlich dieses Lied für mich singen:). Menschen, die auch meinen herausfordernden Eigenschaften mit Wohlwollen begegnen. Menschen, die mir sagen und zeigen, dass sie mich für das lieben, was ich bin: ein ziemlich melancholisches Novemberkind.

Autor*in: Sky Walker

Die längste Zeit meines Lebens war ich der Überzeugung, ich sei einfach anders als die meisten Menschen – nicht ganz „normal“. Ich litt unter meiner inneren Verfasstheit, die das Resultat meiner problematischen Kindheit ist und versuchte jeden Tag aufs Neue, irgendwie mit mir und der Welt klarzukommen. Diverse Ängste, rezidivierende Depressionen, ein Helfersyndrom, Leistungssucht und Perfektionismus sind nur einige meiner ständigen Begleiter. Angetrieben von der ständigen Suche nach dem Sinn meiner Existenz kam es Anfang 2021 zum Totalausfall: 30 Jahre jung, studierunfähig, arbeitsunfähig, lebensunfähig. Nix ging mehr und ich war buchstäblich gezwungen, mich um meine seelische Gesundheit zu kümmern. Seither befinde ich mich auf dem beschwerlichen und doch lohnenswerten Weg der Heilung. Hier im Blog möchte ich über die Schwierigkeiten schreiben, die mein Leben mit komplexen Traumafolgestörungen mit sich bringt und darüber, wie es mir Schritt für Schritt gelingt, besser mit diesen Hustles umzugehen. Außerdem überlege ich (wenn ich mal groß bin:), eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Misshandlungserfahrungen in der Kindheit zu gründen – bis dahin lerne ich, was es dafür braucht, lasse mich von den Selbsthilfegruppen-Erfahrungen Anderer inspirieren und genieße es, mit ihnen im Austausch zu sein. In diesem Sinne: man liest sich!

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