Foto des Autors auf einer Bank sitzend

Gastbeitrag von: Ferdinand Saalbach

„Hier ist eine Liste mit Therapeuten, die können Sie mal durchtelefonieren. Aber stellen Sie sich auf ein halbes Jahr Wartezeit ein. Minimum. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.“

So endete mein Gespräch beim psychosozialen Krisendienst vor ungefähr dreieinhalb Jahren. Am Tag zuvor hatte ich während einer Autofahrt einen Nervenzusammenbruch. Durch meinen Kopf waren plötzlich zahlreiche Gedanken geschossen, die vorher in der Form nicht da waren. Und diese Gedanken gaben keine Ruhe. Ich hatte das Gefühl, als formierten sie sich um einen zentralen Satz, den ich in dieser Form noch nie gedacht hatte: „das ist alles viel zu krass – Du musst in Therapie!“

Nach der Autofahrt ging ich wie paralysiert zu Bett, aber die Gedanken waren auch am nächsten Tag noch da. So laut, so drängend, dass an nichts anderes zu denken war. An Arbeiten erst recht nicht. Ich meldete mich krank und rief bei der Telefon-Seelsorge an. Dort erzählte ich meine Geschichte und bekam auch ein paar Fragen nach meiner Kindheit gestellt. Ich erzählte, was ich immer für normal hielt. Mein Gegenüber sagte mir, dass das alles andere als normal sei und dass sich da offenbar etwas Behandlungsbedürftiges Bahn brechen würde. Sie verwies mich an eben jenen psychosozialen Krisendienst, bei dem ich dann auch am nächsten Tag vorstellig wurde.

Auch der hörte sich meine Geschichte an, stellte ein paar Fragen und suchte dann eine Liste mit Tiefenpsychologen raus. Dann sagte er mir, dass es da wohl eine ganze Menge tieferliegender Dinge gäbe, die jetzt ans Tageslicht träten und dass ich diese Liste abtelefonieren sollte. Aber er sagte eben auch, dass ich mich auf lange Wartezeiten einstellen müsste. Und er gab mir keine der vielen wichtigen Informationen, die ich mir in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren erarbeiten würde.

Hätte ich damals schon gewusst, dass es neben Therapeuten noch viele weitere Angebote gibt, die Menschen in seelischen Krisen helfen möchten und können, dann hätte ich mich in diesem Moment nicht so allein gefühlt. Ich hätte neben den Therapeutenterminen noch andere Termine vereinbaren und mit Menschen sprechen können, die wissen, wie ich mich gerade fühle und was mir helfen könnte. Ich hätte Selbsthilfegruppen entdecken können. Ich hätte Wissen darüber aufbauen können, was einen guten Therapeuten ausmacht, auf was ich achten sollte und welche Therapieformen es überhaupt gibt. Ich hätte lernen können, dass ich einen Anspruch auf ein Erst-Gespräch habe und dass man darauf nicht mehrere Monate warten muss, sondern dass Therapeuten dafür Zeit freihalten müssen. Ich hätte gewusst, dass ich viele Therapeuten ausprobieren darf und das auch tun sollte, bevor ich eine Therapie anfange. Ich hätte mir viel Unsicherheit, Angst, Leere und Hoffnungslosigkeit in dieser Zeit erspart.

Aber dieses Wissen bekam ich in diesem Moment nicht. Ich bekam nur die düstere Aussicht auf lange Wartezeit und keine andere Option. Alles, was ich heute weiß und was mir dabei geholfen hat, durch diese Zeit durch zu kommen, habe ich erst Stück für Stück gelernt und dabei auch viel Frustrierendes erlebt.

Als es mir besser ging und ich aus dem Gröbsten raus war, entwickelte sich daher der Wunsch, Menschen zu helfen, die in ähnlichen Situationen steckten wie ich. Ich fragte mich, wieso es keinen Flyer gibt, auf dem einfach ein paar Grundinfos draufstehen: was Selbsthilfegruppen sind, wie die Diakonie oder die AWO helfen kann und was man so ganz grundlegend über Therapie wissen sollte. Ich fragte bei der Depressionshilfe und beim Gesundheitsamt nach, ob man sowas denn nicht drucken wolle und bei allen zuständigen Stellen auslegen. Damit der Krisendienst, der Hausarzt oder eine sonstige Kontaktstelle etwas hat, das man beim Erstkontakt rausgeben kann und damit die Patienten nach eben jenem Erstkontakt schnell wissen, wohin sie sich wenden können.

Das sei zu viel Arbeit, sagte man mir. Das könne man nicht leisten. Konsterniert blickte ich während dieser Aussage des Gesundheitsamtes – beim Tag der Depression in Dresden – auf Tapeziertische voller Flyer und Broschüren für Depressive, auf denen es sehr sehr viele Informationen gab. Aber eben nichts, was die wichtigsten Infos gebündelt hätte und für den Erstkontakt geeignet gewesen wäre. Für all diese Flyer und Broschüren hatte man wohl Ressourcen. Für einen weiteren – in meinen Augen aber sehr viel wichtigeren – Flyer offenbar nicht.

Ich schrieb einen Text, in dem ich die in meinen Augen wichtigsten Infos zusammensammelte und schickte den an alle möglichen Verbände, Vereine und das Gesundheitsamt mit der Bitte, das einfach zu gestalten, zu drucken und zu verteilen. Aber auch das war nicht möglich. Kein Budget, keine Ressourcen, keine Arbeitskraft, kein Interesse.

Irgendwann war ich so frustriert, dass ich einfach eine Webseite aus diesen Infos gebastelt habe. Dieses Hilfsportal steht heute unter der URL www.steine-im-rucksack.de im Netz. Darauf habe ich alles niedergeschrieben, was mir damals geholfen hätte. In einer Sprache, die mir damals geholfen hätte. Es ist sicherlich kein Portal, das für jeden passt. Aber es ist vielleicht ein Portal, das manchen helfen kann, die sich etwas Orientierung wünschen.

Logo von Internetseite www.steine-im-rucksack.de

Ich habe Flyer und Aufkleber für das Portal produziert und sie händisch in Dresden verteilt. An Ärzte, Therapeuten, an Cafés, Vereine und Selbsthilfegruppen. Und im November wurde mein Engagement mit dem sächsischen Selbsthilfepreis ausgezeichnet. „Anerkennungspreis“ hieß das damals und das hat mich daran am Meisten gerührt. Denn zum ersten Mal wurde diese Anstrengung anerkannt. Nicht wie bisher einfach weggewischt.

Die 400 EUR Preisgeld, die ich damals bekommen habe, habe ich dazu genutzt, über 300 Briefe an Depressionshilfen, Gesundheitsämter und Verbände zu versenden. Alle haben 10 Flyer, 3 Aufkleber und die persönliche Bitte bekommen, die Flyer dorthin zu geben, wo sie jemandem helfen könnten.

Wer selbst Flyer verteilen möchte, kann sich an mich wenden. Hier steht noch ein großer Karton voll mit Flyern und Aufklebern. Auf der Website gibt es zudem die Druckdaten, die sich jeder runterladen und selbst Flyer und Aufkleber nachproduzieren kann.

Meine Vision bleibt weiterhin, dass jede Stelle, an die ein Mensch mit einer seelischen Krise kommt, die Seite kennt und einen Flyer ausreichen kann. Wenn ich Zeit und Energie dafür finde, setze ich mich weiter dafür ein. Und ich freue mich auf diesem Weg über jegliche Hilfe. Sei es ein einzelner Mensch, der einen Flyer mitnimmt, auslegt oder weiterverteilt, ein Preisgeld, mit dem ich dann die Seite für Suchmaschinen optimieren kann oder eben weitere Anschreiben fertig mache oder einfach nur Öffentlichkeit – wie durch diesen Blog-Beitrag.

Auf diesem Weg schlägt mir aber auch weiterhin frustrierende Ablehnung entgegen. Krankenkassen können die Seite nicht verbreiten, weil es kein eigenes Projekt sei. Freie Träger scheuen sich, weil ich auf der Seite (neben anderen) auch auf mein Buch verweise, das passenderweise ebenfalls „Steine im Rucksack“ heißt und weil die Seite somit dann ein kommerzielles Angebot sei.

Diese Rückschläge ermüden mich. Die Seite heißt „Steine im Rucksack“, weil ich das Motto „Jeder von uns hat Steine im Rucksack“ einfach passend finde. In meinem Buch erzähle ich meine ganz persönliche Geschichte, weil ich Menschen motivieren möchte, genauer auf ihre Steine im Rucksack zu schauen und ihnen Hoffnung machen möchte, dass man selbst mit sehr üblen Geschichten einen Weg finden kann, Depression und Suizidalität hinter sich zu lassen. Deswegen weigere ich mich auch, die Verbindung zwischen Seite und Buch aufzuheben, nur weil irgendjemand kommerzielle Absichten dahinter vermuten könnte.

Wenn ich mir Menschen anschaue, die offen mit ihrer Depression Geld verdienen, indem sie Witze darüber machen, Durchhalte-T-Shirts rausbringen oder Coaching-Seminare verkaufen, dann macht mich das wütend. Denn weil es diese Menschen gibt, unterstellt man auch mir schnell, dass ich nur auf Geld und Werbung aus sei.

Die Wahrheit ist aber: sowohl das Buch, als auch meine Arbeit am Hilfsportal sind ein Minusgeschäft. Und das werden sie auch bleiben. Denn alles, was ich damit verdiene, stecke ich in irgendeiner Form wieder rein. Wahrscheinlich sogar ein Vielfaches. Die 400 EUR Preisgeld wollte ich für Porto und Flyerdruck ausgeben – am Ende wurde es mehr und ich hab selbst noch Geld nachgeschossen. Und die Zeit, die ich mit Schreiben, Kuvertieren und zur Post bringen verbracht habe, berechne ich dabei auch nicht. Will ich auch nicht. Weil mein Ziel nicht ist, durch die Krankheit irgendwas zu verdienen.

Die Krankheit, meine Vergangenheit und die damit verbundene Therapie haben in mir Kräfte freigesetzt, die ich heute dazu nutze, mich als Moderator, Musiker und Vortragsredner selbständig zu machen. Damit verdiene ich gutes Geld. Damit, dass ich meine Geschichte erzähle, nicht. Zumindest in den meisten Fällen nicht. Das ist auch nicht wichtig. Was wichtig ist, ist, den Gedanken weiterzugeben, dass sich auch andere auf den Weg machen und ihre Steine im Rucksack überwinden können. Wenn ich das geschafft habe, schaffen das auch andere. Und für die, die sich auf den Weg machen möchten, will ich ein paar Infos bereitstellen, die mir damals gefehlt haben.

Denn Selbsthilfe heißt nicht, dass man sich ganz allein selbst helfen muss. Es heißt, dass man Menschen und Einrichtungen suchen und finden darf, die einem helfen. Dass man mit anderen ins Gespräch kommt, die einem mit Erfahrung und Wissen weiterhelfen können. Manchmal in einem Stuhlkreis und in einer Gruppe, aber in ganz vielen Fällen mit viel viel mehr. Ein Anfang und eine Inspiration dafür kann mein Portal sein. Und wenn das nur einem hilft, hat sich der ganze Aufwand schon gelohnt.

 

Autor*in: Gastautor*in

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