Seit Jahren bestimmen einige Zahlen meinen Alltag und das leider nicht nur während meines Mathematikstudiums. Der Platz der wichtigsten Zahl: auf der Waage. Im Nachhinein kann ich gar nicht mehr genau sagen, wann und wie es angefangen hat. Ich kann nur sagen, dass die Zahl immer mehr Gewicht eingenommen hat je niedriger das Gewicht wurde. Aus wöchentlichem Wiegen wird tägliches. Einmal am Tag reicht auch nicht mehr aus und es muss morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen kontrolliert werden. Manchmal auch noch zwischendurch. Es reicht nicht, sich einmal daraufzustellen, man muss es mehrfach machen, um zu schauen, ob die Waage auch jedes mal die selbe Zahl anzeigt. Ebenso muss die Waage an verschiedenen Stellen im Badezimmer ihren Platz finden, damit man sich sicher sein kann, dass die Zahl nicht durch eine Unebenheit im Boden verfälscht wird.
Weitere wichtige Zahlen: Kalorienangaben, die Zahl auf der Küchenwaage, um alles auf die 0,6-te Kalorie genau auszurechnen und zu dokumentieren. Von Beginn an war es immer phasenweise ein auf und ab. Mal besser, mal schlechter. Mal mehr wiegen, mal weniger. Mal mehr Kalorienzählen, mal weniger. Mal einfacher, mal schwieriger, gegen die Essstörung zu kämpfen.
Während meiner letzten ambulanten Therapie hat mich meine Therapeutin zum monatlichen Wiegen zu meiner Psychiaterin geschickt. Für mich war es jedes mal sehr unangenehm, mich vor einer anderen Person auf die Waage zu stellen. Nachdem ich eine Woche nachdem mein Papa gestorben war von der Psychiaterin zu hören bekam „Ihr Gewicht ist ein bisschen in die Höhe gegangen, ich sehe, es geht ihnen immer besser“, war ich sehr verärgert, dass sogar eine Person vom Fach mein Wohlbefinden nur auf die Zahl auf der Waage reduziert. Da ich gemerkt habe, dass sich die essgestörten Gedanken „Du musst wieder abnehmen, damit sie deine Probleme ernst nimmt“ immer stärker in meinem Kopf ausgebreitet haben, konnte ich zum Glück auf die gesunden Stimmen in mir hören und habe entschieden, nicht mehr hinzugehen.
Seit fünf Monaten bin ich nun schon hier in Bulgarien. Seit fünf Monaten ohne Waage. Wie geht es mir damit? Am Anfang habe ich sehr häufig mit dem Gedanken gespielt, mir eine Waage zu kaufen, um weiterhin etwas Kontrolle haben zu können. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass es ein Schritt in Richtung Gesundheit ist, es nicht zu tun. Bis heute habe ich dem Drang widerstehen können und nur eine Küchenwaage im Schrank. Es ist seit sechs Jahren weitaus die längste Zeit ohne mein Gewicht zu wissen. Es fühlt sich unsicher an, nur auf das eigene Körpergefühl vertrauen zu können, wo man doch weiß, dass man sich selbst im Spiegel nicht der Realität entsprechend sehen kann. Ich merke, dass mein Essverhalten sehr geplant ist, dass ich nur selten aus meiner Routine ausbrechen kann und dort die fehlende Sicherheit suche. Aber wenn ich ehrlich bin, wäre das wahrscheinlich auch mit Waage nicht anders. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann fühlt es sich trotz all der Unsicherheit auch gut an. Unbeschwerter. Die Zahl auf der Waage hat (zumindest für den Moment) kein Gewicht, sondern nur das Leben.
Wow. Ich bin sprachlos ob vieler Parallelen
im Fühlen, Denken, im Handeln, die Erfahrungen
vor Allem mit Stigmatisierungen und deren Folgen.
Damit meine ich sowohl jene(s), welche(s)
nicht im Rahmen der allgemein als anerkannten
Norm von (Normal=)Gesund liegt (liegen), als auch
jene(s), welche(s) einen Weg in ein
sich-seiner-selbst-bewusstes, mit sich liebevoll(er)
umgehendes Leben ebnen kann(können)
Ein kleiner Denkanstoss und eine Frage, welche
mich auch oft gedanklich umtreibt:
Die nach wie vor spürbare, durchweg negativ belastete
Kontrolle in der Nahrungsaufnahme -ich habe nicht selten das genauso empfunden und mich schon wieder damit kasteit. Bis ich diese Kontrolle als einen Krückstock betrachtete. Denn gesunde Ernährung braucht auch für Essgestört-Unbelastete einen Rahmen, eine Kontrolle. Das fängt als Kind an (i.d.R. durch Eltern/Pädagogen). Im heutigen Alltag, welcher zeitlichen, nervlichen u.A. unterlegen ist, dient doch eine gewisse Kontrolle, ein (z.B. Frühstücks-) Ritual doch mehr der Sicherheit, lieb zu sich zu sein, sich Zeit dafür bewusst zu nehmen und sich selbst ernst zu nehmen. All das geht doch auch auf anderen Ebenen in unserer heutigen Zeit (seit der Industrialisierung mindestens..) unter als „nicht so wichtig, hab dafür keine Zeit“) Dabei ist das für ALLE Menschenkinder gleichermaßen wichtig und das unabhängig jeglicher Rahmenbedingungen.
Diese „Kontrolle“, welche jetzt noch da istsehe ich mittlerweile als eine Form der Qualifizierung, eine Form des Gewinns, eine Chance für auch Andere, aus etwas Zerstörenden etwas Bleibendes zu gestalten..
Dein Kommentar hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Wahrscheinlich ist es so, dass man eine gewisse Art der Kontrolle braucht und wenn man es als Krückstock sehen kann, ist es sicherlich hilfreich. Ich selbst kann zumindest für mich selbst die Kontrolle, die teilweise Zwänge sind, nicht wirklich als etwas gutes sehen. Für mich ist es kein Krückstock, der mir hilft, sondern einer, der mich im freien Laufen einschränkt.
Hi Mutsammlerin, danke dass du mich so in dein Herz gucken lässt. Gib nicht auf, du schaffst das.
Grüße Rainbow