ICD-10-Klassifikation liegt auf einem Schreibtisch

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe an meiner dritten Hausarbeit. Neben mir liegt das ICD-10-Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen. Das erinnert mich daran, wie meine Ängste vor einigen Jahren den Namen Soziale Phobie bekommen haben.

Das schüchterne und ängstliche Kind

Ich war immer die Schüchterne, habe kaum gesprochen und mich ziemlich unwohl gefühlt, wenn ich in sozialen Situationen war. Die Ängste wurden immer stärker und mir ging es immer schlechter. Gemerkt hat das aber niemand. In der Grundschule wurde ich auf jedem Zeugnis als schüchtern und ängstlich beschrieben. Auch danach gab es bis zum Schulabschluss jedes Mal die Bemerkung, dass ich mich aktiver im Unterricht beteiligen solle. Angesprochen wurde ich darauf aber von keiner einzigen Lehrkraft.

Ich funktioniere nicht wie das Lehrbuch

Als ich mit 15 Jahren eine Essstörung entwickelt habe, wurde ich von meiner Mama zu einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin geschleppt. Mein Problem mit der mündlichen Mitarbeit in der Schule war oft Thema in den Sitzungen, aber wie stark mich die Ängste belastet und eingeschränkt haben, hat die Therapeutin nicht verstanden. Dass man sich seinen Ängsten immer wieder stellen muss, damit sie weniger werden, ist allbekannt. Und doch ist es nicht so einfach. Ich habe versucht, mich in einem Schulfach jede Stunde einmal zu melden. Aber es wurde auch nach Wochen und Monaten nicht einfacher. Dazu hatte die Therapeutin nur folgendes zu sagen: „Das kann gar nicht sein. Das steht in jedem Lehrbuch, dass das so ist!“ Kann sein. Geholfen hat der Spruch trotzdem nicht.

Das Kind bekam einen Namen

Nach zwei Jahren konnte ich mich endlich dazu überwinden, die Therapie abzubrechen und zu einer anderen Therapeutin zu wechseln. Leider hieß das auch, dass ich das Therapieverfahren wechseln musste und nun eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie machen musste. Die Therapeutin und ich haben überhaupt nicht harmoniert. Sie hat mich immer wieder stark unter Druck gesetzt, was nur dazu geführt hat, dass ich gelogen oder noch mehr geschwiegen habe. Ein Jahr lang bin ich jede Woche zu ihr gegangen, bevor ich ein halbes Jahr im Ausland studiert habe. In einer der letzten Sitzungen ging es wieder um die Angst. Da ist sie aufgestanden, hat ihren ICD-10 aus dem Schrank geholt und mir die einzelnen Kriterien der Sozialen Phobie vorgelesen. Ich sollte jeweils bestätigen oder verneinen, ob sie auf mich zutreffen. Während sie einen Punkt nach dem nächsten vorgelesen hat, konnte ich gar nicht mehr aufhören, mit dem Kopf zu nicken, denn das, was sie da gerade vorlas, hätte auch eine Beschreibung meines (Gefühls-)Lebens sein können. „Dann hat das Kind ja jetzt endlich einen Namen“, sagte die Therapeutin und die Stunde war vorbei.

Therapie-Klappe – die dritte

Nachdem ich aus meinem Auslandssemester wiedergekommen bin, begab ich mich erneut auf die Suche nach einer neuen Therapeutin. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, wirklich ernst genommen zu werden. Ich konnte endlich ehrlich sein und bis zum Schluss auch von Rückfällen und Tagen erzählen, an denen die Angst stärker war als ich. Ein Jahr war ich dort; danach nochmal für ein Jahr im Ausland und nun haben wir die restlichen Stunden noch im monatlichen Abstand verbraucht, um all die erarbeiteten Strategien und Gedankenanregungen aus der Therapie wieder aufzufrischen. Dass die Ängste mich immer begleiten werden, mal mehr, mal weniger, das denken wir beide. Aber wie meine Therapeutin sagte: Vielleicht bin ich einfach so. Mit der Angst und mit all den Dingen, die ich trotzdem mache. Und vielleicht ist das auch einfach okay so.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

in Zusammenarbeit mit:

Logo Schon mal an Selbsthilfegruppen gedacht?