Unser Gastautor mit einer Giraffe

Die derzeitige Situation um das Corona-Virus löst bei mir existenzielle Ängste aus und destabilisiert mich sehr. Zu meinem Hintergrund: Ich leide an Depressionen, leichtem bis mittelgradigem Stottern und leichtem Autismus (Grad 1). Im Alltag würde ich mich normalerweise als unauffällig einstufen. Ich habe einen regulären Arbeitsplatz, wohne allein, bin in der Gesellschaft integriert und aktiv und benötige keine Betreuung.

Doch das ist nicht selbstverständlich, sondern ein Ergebnis jahrerlanger Psychotherapie und eigener harter Arbeit. Für meine psychische Stabilität benötige ich auf Grund meiner Einschränkungen feste Strukturen, regelmäßige Abläufe und ein festes soziales Netzwerk. So ist es für mich sehr wichtig, meine regelmäßigen Mahlzeiten am Tag zuverlässig einnehmen zu können, regelmäßige soziale Kontakte, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit des Rückzugs. Auch ist eine gewisse Vorhersehbarkeit von Ereignissen für mich wichtig, und es macht mir große Angst, nicht zu wissen, was am nächsten Tag sein wird. Aber zur Zeit ändert sich alles fast stündlich.

Bei der Wahl des Arbeitsplatzes hatte ich auf eine Kantinenversorgung geachtet. In der Freizeit bin ich in der Kirche engagiert und spiele dort u.a. Orgel. Dadurch habe ich mir auch eine gewisse Anerkennung erarbeitet. Gegen die Depressionen helfen mir insbesondere die Giraffen. Der Kontakt mit diesen einzigartigen sanften Tieren beruhigt mich sehr und gibt mir psychische Stabilität. Bei meiner Arbeit engagiere ich mich als Personalratsmitglied für die Interessen der Mitarbeiter. Weiterhin bin ich in verschiedenen Selbshilfegruppen aktiv. Ich habe mir meinen Alltag so eingerichtet, dass ich funktioniere und keine Hilfe benötige.

Doch nun fällt von einem auf den anderen Tag komplett alles, aber wirklich alles weg. Die Zoos sind geschlossen, Gottesdienste verboten, Personalratssitzungen abgesagt und die Kantine darf ab morgen auch nicht mehr öffnen. Sogar die Treffen der Selbsthilfegruppen sind hier untersagt. Bei mir löst das Panik aus. Ich zittere vor Angst und kann nachts nicht mehr schlafen, weil ja auch niemand weiß, wie lang dieser Zustand anhält.

Nun sagen einige Leute, dass ja doch alle mit der Corona-Krise zurecht kommen müssen. Dazu möchte ich eine kleine Metapher erzählen:

Nehmen wir mal an, in einem Hochhaus wohnen in der 10. Etage zehn Personen. Eine Person davon ist gehbehindert, nicht im Rollstuhl aber vielleicht mit Krücken. Doch das Hochaus hat einen Aufzug, und deshalb kommt der Gehbehinderte auch ohne Weiteres in seine Wohnung. Nun fällt aber für mindestens einen Monat der Aufzug aus, und niemand kann sagen, ob er nach dem Monat wieder funktioniert oder ob er länger kaputt ist. Das ist natürlich für alle ein Problem, aber den Gehbehinderten trifft es stärker. Er kann jetzt nur mit großer Mühe und Anstrengung seinen Alltag bewältigen.

Soweit die Metapher.

Was für den Gehbehinderten der Aufzug ist, sind für mich die Tagesstruktur, das regelmäßige Essen, der Gottesdienst, das Orgelspiel, die Selbshilfegruppen, die sozialen Kontakte bei der Arbeit und in der Freizeit, und nicht zuletzt der Kontakt zu den Giraffen. Ich fühle mich völlig aus dem psychischen Gleichgewicht und kann nur mit Angst und Mühe den Alltag bewältigen. Natürlich leiden alle irgendwie, aber viele können es gut kompensieren, mir fällt es sehr schwer.

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Autor*in: Giraffe

In der Kindheit, mit drei Jahren, begann ich zu stottern. Dadurch war ich schon von Anfang an Außenseiter. In der Jugendzeit entwickelten sich Depressionen, teils als Reaktion auf die Umwelt und teils erblich bedingt. Es folgten etliche jahrelange Logopädie und Psychotherapie. Erst im Erwachsenenalter wurde noch ein leichter Autismus festgestellt. Auf der einen Seite bin ich froh, dass ich zunächst relativ unauffällig bin. Mit den psychischen Symptomen kann ich inzwischen ganz gut umgehen, und das Stottern tritt meist nur unter Stress auf. Auf der anderen Seite fällt es der Außenwelt dann oft schwer zu erkennen wenn ich Hilfe Benötige. Denn die ständige Kompensation von Symptomen oder Einschränkungen kostet viel Kraft. Ich freue mich, dass ich eingeladen wurde, hier etwas zu schreiben und bin dankbar für jeden Kommentar.

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