Kürzlich hatte ich das Gefühl der Zeit begegnet zu sein. Einer Zeit, in der ich noch irgendwie meinen Platz finden muss. Alles kam mir so vor, als würde es in doppelter, dreifacher ja sogar vierfacher Geschwindigkeit ablaufen. Die letzten eineinhalb Jahre war ich es gewohnt, meine Zeit mit einem begrenzten und sehr engen Kreis an Menschen zu verbringen. Keine größeren Partys mehr. Keine unnötigen Fahrten zu Pflichtveranstaltungen, in denen ich nur meine Zeit absitze. Keine Treffen, zu denen ich nur aus Pflichtgefühl gehe.

Alles schien bequem aus den eigenen vier Wänden machbar zu sein. Ich hatte das Gefühl Voranzukommen, obwohl alles um mich herum stillsteht. Zum Jahreswechsel hatte ich die Hoffnung, dass ich weiter vorankomme, auch wenn nichts mehr um mich herum stillsteht. Heute habe ich die Befürchtung, dass ich auf der Stelle bleibe, während alles um mich herum sich regt, bewegt und regelrecht mir davonrennt. Ich komme mir dabei vor, wie als ob ich aus der Zeit gefallen bin. Regelrecht von der Zeit vergessen. Irgendwie fremd. So als ob ich etwas verpasst habe. Eine Durchsage nicht gehört, das Programm umgeschaltet, die Push-Benachrichtigung weggewischt.

Von Freude über die Öffnungen keine Spur. Vielmehr die Sorge, dass alles zu schnell geht. Zu schnell für das Virus. Zu schnell für mich. Alles Gedanken die mir durch den Kopf schießen, und die ich nur schwer abschütteln kann. Viel zu gemütlich haben die es sich in meinem Oberstübchen gemacht. Sich häuslich eingerichtet. Ja fast schon ganze Familien gegründet. 

Wenn ich so darüber nachdenke, kommt mir diese Situation mehr als bekannt vor. Sie erinnert mich an die Zeit meiner Langzeitbehandlung. 26 Wochen habe ich in einer Klinik verbracht, um mich mit mir und meiner Suchterkrankung auseinanderzusetzen. 26 Wochen, in denen es Teil des Therapieprogrammes war, sich die Ausgänge Stück für Stück zu erarbeiten. 26 Wochen, die ich überwiegend in ein und derselben Umgebung verbracht habe. Fast immer mit denselben Menschen abhängen. Dieselben Tagesabläufe. Wenig Varianz. Doch irgendwie herausfordernd. 

Dachte ich zu beginn, bis sich die Käseglocke des geschützten Rahmens hob und ich in die “freie Welt” entlassen worden bin. Oft wurde mir gesagt, dass die wahre Herausforderung außerhalb der Käseglocke auf mich wartet. Tief im inneren wusste ich es, so richtig angekommen war bei mir aber dennoch nicht.

Die Zeit und das Zurechfinden nach den 26 Wochen des immer Gleichen war herausfordernd. Ich hatte nur kurze Zeit, um mich zu akklimatisieren. Einige wenige Tage standen mir zur Verfügung, um wieder in mein altes Leben zurückzukehren. Für die Kurse an der Universität vorbereiten, das Auto bei der Zulassungstelle anmelden, die eigenen vier Wände neu gestalten. Mal wieder Feiern gehen. Ohne Suchtmittel. Wie das überhaupt funktionieren soll, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, musste ich aber auch nicht. Das Wissen und der feste Entschluss abstinent bleiben zu wollen und die Möglichkeit mit dem Auto jede Situation, die mir brenzlich wird, verlassen zu können, reichten mir aus, um mich in Situation zu begeben, von denen jeder meiner Therapeuten mir geraten hätte, einen sehr weiten Bogen darum zu machen.

Heute bin ich stolz, mir nicht zu viel Zeit gegeben zu haben und mich einfach in das kalte Wasser geworfen habe. Klar hätte ich alles doppelt, dreifach oder drölffach durchdenken können. Hilfreich wäre es für mich nicht gewesen. Ich hätte die Herausforderung gescheut und mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen. Den geschützten heimeligen Rahmen nicht verlassen. Die Suchterkrankung als eine Ausrede benutzt. Jedes Hindernis als eine Gefahr für meine Abstinenz interpretiert. Dabei aber auch die Gelegenheit verschmäht, zu wachsen. 

Wenn ich so an die Langzeitbehandlung und die Herausforderungen danach denke, kommen mir die Lockerungen immer noch sehr schnell aber nicht zu schnell vor. Natürlich werde ich persönlich meine Zeit brauchen, um wieder in den Rhythmus zu kommen. Gleichzeitig weiß aber auch, was ich brauche, was mir wichtig ist und wo ich mir selbst vielleicht im Weg stehen könnte. Selbstverständlich wird die ein oder andere Situation mich noch vor die ein oder andere Herausforderung stellen und dennoch weiß ich, dass ich dass es mir nicht helfen wird, mich davor zu verstecken.

Vielleicht ist das auch die richtige Herangehensweise für mich. Ich muss mich wieder in den Strom der Zeit begeben ja regelrecht hineinwerfen. Schließlich ist das das beste, was ich für mich tun kann. Nicht zu viel grübeln, nachdenken, sich die Entschleunigung zurückwünschen und dieser regelrecht hinterher trauern, sondern einfach kopfüber, aber nicht kopflos hineinspringen und die Inseln der Ruhe, Entschleunigung und Stille selbst schaffen, als sich diese von außen herbeizuwünschen.

Es ist nicht die Zeit die mich vergessen hat, sondern vielmehr bin ich es, der ein Gefühl für die Zeit verloren hat. Es ist auch nicht die Zeit, in der ich meinen Platz finden muss. Den habe ich schon längst. Hatte ich schon immer. Werde ich auch immer haben. Ich kann mich jederzeit darauf setze, wenn ich es muss, will oder brauche. Jetzt heißt es aber aufstehen. Alles weitere ergibt sich dann, wenn ich ersteinmal aufgestanden bin.

Autor*in: Bossi

Ich möchte meine eigene Gruppe etwas anders angehen und die üblichen Runden einer Selbsthilfegruppe mit ein paar innovativen Methoden etwas beleben. Über eben diesen Einsatz von Methoden in der Selbsthilfe, meine Erfahrungen damit und meine persönliche Suchtgeschichte möchte ich im Blog berichten und mich darüber austauschen.

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