Gastbeitrag von: Ferdinand Saalbach

Was ist eigentlich Selbsthilfe, wieso denkt man dabei immer sofort an Selbsthilfegruppen und: ist Selbsthilfe überhaupt wirklich mehr als Selbsthilfegruppen?

Dieser fast schon philosophischen Fragestellung haben wir uns beim letzten digitalen Stammtisch der „Jungen Selbsthilfe in Sachsen“ gestellt. Wobei das wie ein Euphemismus klingt. Der letzte war nämlich erst der insgesamt dritte Stammtisch. So richtig angestammt sind wir also noch nicht. Und wir wissen auch noch gar nicht so genau, wo wir mit unserem Stammtisch hinwollen. Bisher steht alles noch unter dem Motto: wir lernen uns mal kennen, wir tauschen uns mal aus und dann schauen wir, was wir voneinander lernen können.

Wir – das sind Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen, die irgendwie mit dem Thema Selbsthilfe zu tun haben. Da ist eine Vertreterin der KISS genau so dabei wie der Koordinator der LAKOS Sachsen, da haben wir den Leiter einer Selbsthilfegruppe für Epileptiker, jemanden aus einer Gruppe für Menschen mit Muskelatrophie, Menschen, die sich stark in der Selbsthilfe beim Thema Depression engagieren und eben mich, der mit Selbsthilfegruppen inzwischen gar nichts mehr am Hut hat, dafür aber ein Hilfeportal für Menschen in seelischen Krisen betreut.

Weil einer der häufigsten Sätze im ersten Stammtisch irgendwie in die Richtung ging, dass wir das „angestaubte Image der Selbsthilfe“ verbessern möchten und dass sich junge Menschen wahrscheinlich davon abgeschreckt fühlen, wenn sie an Stuhlkreise denken, wurde bei mir der Gedanke angefeuert „wieso ist eigentlich Selbsthilfe immer gleich Selbsthilfegruppe und damit immer gleich Stuhlkreis?“

Aus diesem Gedanken heraus habe ich angeboten, unseren dritten Stammtisch auf Basis dieser Fragestellung zu moderieren. Und was dabei zusammengekommen ist, wird uns noch einigen Gesprächsstoff für die nächsten Stammtische liefern und hoffentlich auch den ein oder anderen Gedanken bei anderen Selbsthilfe-Aktiven anstoßen.

Zunächst habe ich den Stammtisch mit einem Impulsvortrag eingeleitet und dabei meine persönliche Erfahrung mit Selbsthilfegruppen einfließen lassen. Bei mir war es so, dass ich verschiedene Selbsthilfegruppen in verschiedenen Stadien meiner Therapie besucht habe. Ich war in einer Gruppe, in der es um Depressionen ging und in der ich das Gefühl hatte, dass die Linderung von Alltags-Symptomen im Mittelpunkt stand. Dafür hatte jeder eine andere Strategie: mancher machte eine Therapie, ein anderer behalf sich mit Büchern, wieder ein anderer ergab sich einfach seinem Schicksal. So war es aber schwer, sich über einen gemeinsamen Weg auszutauschen und letztlich blieb uns dann oft nur der Austausch über die Krankheit oder über kreative Lösungen zur Symptom-Bewältigung. Das war eine Zeit lang hilfreich, aber irgendwann merkte ich, dass es mich runterzog, dass die anderen nicht dieselben Erfahrungen und Fortschritte machten wie ich. Dann war ich in einer Gruppe, in der es ganz speziell um Missbrauch ging. Das half auch eine Zeitlang weiter, aber auch hier war irgendwann für mich eine Grenze erreicht, weil ich merkte, dass die Beschäftigung mit meiner Vergangenheit irgendwann abgeschlossen war und es nicht gut tat, immer wieder darauf herum zu kauen. Im Ganzen hätte ich mir eigentlich eine Gruppe gewünscht, in der sich Menschen zusammenfinden, die sich analytisch therapieren lassen und entsprechend einen ähnlichen Weg mit ähnlichen Stadien und Erfahrungen durchmachen, wie ich ihn erlebt habe. Dieser Wunsch hat bei mir dann den Gedanken ausgelöst, ob es eigentlich hilfreich ist, Selbsthilfegruppen nach Krankheitsbildern, Alter oder Wohnort zu gruppieren und nicht nach Zielen oder Methoden.

Aber wir wollten ja über Selbsthilfe sprechen und nicht über Selbsthilfegruppen. Also trat ich nochmal einen Schritt zurück und zeigte auf, wie auch ich sofort beim Thema „Selbsthilfe“ wieder in Richtung „Selbsthilfegruppe“ abgedriftet war. Und ich stellte dar, wie absurd das eigentlich ist. Der Begriff „Selbsthilfe“ sagt ja, dass man sich selbst hilft. In der Gruppe hilft einem aber das Kollektiv. Irgendetwas ist doch komisch an diesem Begriff.

Ich versuchte also, den Begriff „Selbsthilfe“ mal ganz von vorne zu definieren. Was bedeutet es denn, sich selbst zu helfen? Ist ein Termin bei der Diakonie Selbsthilfe? Oder hilft einem da auch jemand anders – nämlich das Gegenüber? Ist ein Besuch auf einem Hilfeportal Selbsthilfe? Oder hilft einem da derjenige, der das Portal erstellt hat? Ist also das Erstellen eines Portals Selbsthilfe? Oder nicht viel mehr Hilfe, die man anderen zukommen lässt? Also Anderen-Hilfe?

Das hat einen zentralen Gedanken angestoßen: vielleicht gleiten wir ja gar nicht deswegen immer wieder von der Selbsthilfe zur Selbsthilfegruppe ab, weil der Begriff so naheliegend ist, sondern wir gleiten deswegen ab, weil der Begriff „Selbsthilfe“ an sich so schwer zu greifen und viel weniger selbsterklärend ist, als man anfangs vielleicht denken möchte.

Wir haben also damit begonnen, Selbsthilfe zu umreißen. Möglichst breit, damit wir alles einschließen, was irgendwie damit zu tun haben könnte. Und wir sind in der Diskussion innerhalb von wenigen Wortmeldungen plötzlich bei „Formen der Selbsthilfegruppe“ gelandet. Ich habe das als Moderator bewusst eine Weile lang laufen lassen, um uns als Gruppe zu zeigen, wie wir uns selbst den Beweis dafür geliefert, wie schwierig es ist, „Selbsthilfe“ zu umreißen und wie schnell es passiert, dass man wieder bei der „Selbsthilfegruppe“ landet.

Dann haben wir uns fokussiert und damit begonnen, erste Gedanken zu einer Umschreibung von „Selbsthilfe“ zu erarbeiten. Was dabei besonders hängen geblieben ist, war dieser Satz: „Selbsthilfe ist alles, was sich außerhalb von medizinischen Netzwerken befindet“. Und ein anderer hat drei Formen von Selbsthilfe definiert: „1. Ich helfe mir selbst, 2. Ich suche Hilfe in einer Gruppe, 3. Ich mache Öffentlichkeitsarbeit/Netzwerkarbeit/Interessenvertretung“

Und dann war die Zeit auch schon vorbei und uns allen war klar geworden, wie groß dieses Thema ist und wie viel Diskussionspotenzial es uns liefert.

Aus diesem Stammtisch sind somit Ideen für vier weitere Diskussionsrunden entstanden:

  1. Was gehört eigentlich alles zur Selbsthilfe (außer Selbsthilfegruppen)?
  2. Was könnten alternative Begriffe für Selbsthilfe sein (auf Basis der Ergebnisse der vorhergehenden Diskussion)?
  3. Welche Formen von Selbsthilfegruppen gibt es bzw. welche sind denkbar?
  4. Was sind schöne alternative Begriffe für Selbsthilfegruppe (auf Basis der Ergebnisse der vorhergehenden Diskussion)?

Ich bin sehr gespannt, wie sich unsere Runde weiterentwickeln wird.

Wir sind übrigens sehr offen für neue Teilnehmer*innen – egal aus welchem Bereich und mit welcher Intention. Austausch macht uns alle reicher. Ihr müsst auch nicht zwingend aus Sachsen sein 😉

 

 

Autor*in: Gastautor*in

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