Schreibtisch mit Laptop, Stiften und Karteikarten

Als ich vor einem halben Jahr für mein Masterstudium in die fremde Studienstadt gezogen bin, hatte ich die große Hoffnung, dass die Ängste während meines Auslandsjahres vielleicht einfach verschwunden sind – oder zumindest nicht mehr so stark sein werden. Mein Ziel an der neuen Uni war es nun, zu allen Veranstaltungen hinzugehen. Denn daran war in den Jahren zuvor nicht zu denken. Anfangs klappte das auch ganz gut. Es war zwar jeden Tag wieder ein Kampf, mal größer, mal kleiner, aber insgesamt habe ich mich ganz gut geschlagen. Man könnte meinen, im Laufe der Zeit wäre es dann sicherlich einfacher geworden? Leider falsch gedacht. Woche für Woche wurde es schwieriger und die Angstsymptome stärker – bis ich während einer Vorlesung den Raum verlassen musste, um wieder Atmen zu können.

Rückzug in die sicheren vier Wände

Seit diesem Tag habe ich mehr Zeit zuhause als in der Uni verbracht. Dass es so nicht weitergehen kann, wusste ich. Wie ich es ändern kann, leider nicht. Aber das konnte ich auch gut von mir wegschieben, denn geplant war, dieses Semester auszusetzen, um zu tanzen und ein Praktikum zu machen. Und bis zum Herbst kann ja noch viel passieren – die Ängste könnten sich dann endlich in Luft auflösen oder einfach so davon fliegen…

Alles kommt anders als geplant

Von wegen, ich habe noch ein halbes Jahr Zeit, mich darauf vorzubereiten! Alle Pläne sind verschoben oder abgesagt. Das heißt: Es wird doch schon jetzt weiterstudiert. Als mir das vor einigen Wochen klar geworden ist, war plötzlich wieder ganz viel Angst in mir. Das Semester startet als Online-Semester. Das scheint es auf den ersten Blick deutlich einfacher zu machen. Auf den zweiten dann doch nicht ganz so deutlich. Besonders vor der ersten Woche war ich sehr aufgeregt. Ich wusste nicht, wie alles ablaufen wird und ob ich womöglich in einer Videokonferenz einfach so dran genommen werde und etwas sagen muss. In der zweiten Woche war ich dann schon ein bisschen entspannter.

Im Notfall klappe ich einfach meinen Laptop zu

Ein Vorteil an der Online-Uni: Ich kann in meinen sicheren vier Wänden bleiben. Ich muss in keinem Seminarraum mit anderen Menschen sitzen und nicht die ganze Zeit befürchten, eine Panikattacke zu bekommen. Trotzdem ist es nicht zu unterschätzen, dass auch eine Videokonferenz eine soziale Situation darstellt, die viele Ängste in mir auslöst. Dankbar bin ich für jeden Kurs, in dem wir Bild und Ton ausgeschaltet lassen müssen. Leider gibt es aber auch einige, die Bild und Ton verlangen. Bisher habe ich meistens so getan, als würde ich zu den Personen gehören, die weder eine Webcam noch ein Mikrofon an ihrem Laptop haben. (Auf Dauer wird man mir das wohl leider nicht abkaufen.) Allein der Gedanke daran, in einer Videokonferenz vor all den anderen Menschen etwas sagen zu müssen, löst riesige Ängste aus. Das einzig beruhigende ist, dass ich im Notfall einfach meinen Laptop zuklappen könnte, wenn die Panik mir die Luft zum Atmen nimmt und mein Herz droht zu zerplatzen. Allerdings müsste ich mich dann von dem Kurs abmelden, weil ich mich nicht trauen würde, überhaupt nochmal in dieser Videokonferenz anwesend zu sein.

Wenn ein „Ja“ schon Fluchtimpulse auslöst…

Einmal kam ich nicht drum herum, etwas sagen zu müssen. Die Anwesenheitsliste wurde abgehakt. Mit jedem Namen, der näher an meinen kam, wurde mein Herzschlag schneller, ich konnte kaum noch atmen und war kurz davor, aus meinem Zimmer zu flüchten, um von dem ‚gefährlichen‘ Laptop wegzukommen. Irgendwie habe ich es dann aber doch geschafft, ein „Ja“ hervorzubringen, als mein Name aufgerufen wurde. Ausgerechnet bei mir wollte die Dozentin dann auch noch wissen, wie mein Nachname ausgesprochen wird. Also nochmal ein Wort sagen. Aber: Ich habe es überlebt.

Eine soziale Phobie ist eine AngstERKRANKUNG

Im letzten Semester habe ich mir glücklicherweise genau die Kurse ausgesucht, in denen eine schriftliche Leistung erforderlich war. Das sieht jetzt leider anders aus: Referate, Referate, Referate. Natürlich heißt es immer: „Man muss sich seinen Ängsten stellen, damit sie weniger werden“, aber das funktioniert für mich momentan einfach nicht. Dafür sind die Ängste zu stark. Die innere Anspannung raubt mir so schon ständig den Schlaf, die Ängste lassen mich in essgestörte Verhaltensweisen zurückfallen und ich fühle mich oft einfach hilflos und verzweifelt. Deshalb habe ich die erste Uniwoche damit verbracht, jedem*r Dozent*in per Mail von meiner Angsterkrankung zu erzählen und um eine alternative schriftliche Leistung zu bitten. Eigentlich gehe ich recht offen mit meiner Angst um, aber das hat dann doch bei jeder Mail aufs neue Überwindung gekostet. Schließlich sind das die Leute, die am Ende des Semesters meine Hausarbeiten bewerten werden. Natürlich waren auch einige Profs dabei, die sich auch nicht auf einen offiziell beantragten Nachteilsausgleich einlassen würden, denn im Grunde war deren Einstellung: „Das ist bloße Anstellerei. Das Referat findet nur online statt und nicht einmal in einem echten Raum. Das sollte ja wohl wirklich kein Problem darstellen.“ Diese Kurse habe ich direkt wieder abgewählt. Aber erst habe ich noch ihnen noch einmal geschrieben und betont, dass es eine ERKRANKUNG ist. Vielleicht hat es ja wenigstens ein bisschen was in ihren Köpfen bewegt. Es gibt aber auch viele, die sehr verständnisvoll waren. Das hat mich sehr erleichtert und mir wieder einmal gezeigt, dass es gut ist, über Schwierigkeiten zu sprechen – oder zu schreiben.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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