Gastbeitrag von: Chris

Allmählich frage ich mich wieder, ob es nicht besser wäre gar nicht zu fühlen. Ich weis jedenfalls gerade nicht, wie sich mein Leben mit meiner alkoholkranken Mutter und meinem vor dem Burnout stehendem Vater sonst noch aushalten ließe. Jeder Tag scheint wie eine neue Chance zu sein, verletzt zu werden. Das Wochenende ist wie eine Plattform für Streit und Verzweiflung. Der Montag ist für mich in den letzten Wochen wie zu einer Rettung geworden, denn dann haben zumindest die 8 bis 10 Stunden Unterwegssein eine Chance auf etwas Freude.

Als ich am bestrigen Morgen viel zu früh aufgewacht bin, fing eigentlich alles sehr schön an. Ich hatte mir vorgenommen, den Tag zu nutzen, mir etwas Gutes zu tun und einfach mal ohne Erwartungen an mich, Spaß zu haben. Da die Sonne schien, bot es sich sogar an, im Wintergarten zu essen. Kurz darauf schloss mich meine Mutter dort ein. Geschockt hat es mich nicht, denn ihre aggressive Art bin ich mittlerweise gewohnt. Ich hatte wohl die Spülmaschiene nicht ausgeräumt, was ich mir für danach vorgenommen hatte. Nachdem sie fertig war, schloss sie die Tür auf und schleuderte den Tisch durch den halben Raum. Ihrer Ansicht nach hätte sie mich „nur“ etwas fragen wollen. Es ging wohl darum, dass sie wieder ins Krankenhaus gehen wollte. Zuvor sollte ich aber mit ihr und meinem kleinen Bruder den neuen Dumbo Film im Kino anschauen. Ihr würde das viel bedeuten, dass sie das davor mit uns macht. Ich habe abgelehnt.

Im Verlauf des Tages haben sich eine meiner Schwestern, meine Mutter und mein Vater häufig gestritten. Anders als noch vor einigen Jahren ist er nicht lautstark eskaliert, – erfahren habe ich davon erst später – sondern endete damit dass meine Mutter weinend auf dem Fußboden lag. Die genaue Ursache kenne ich nicht. Ehrlich gesagt weis ich auch nicht, welcher Version ich mehr trauen soll. Meine Mutter ist mir wichtig und auch wenn sie nach Alkohol stank, glaube ich tief in meinem Inneren noch was sie sagt. Die Wahrheit scheint mir allerdings zu oft etwas Gegenteiliges zu beweisen. Die Wahrheit ist, dass ich mich in den letzten Wochen zu oft habe von ihr anlügen lassen. Praktisch jedes Versprechen, dass ich von ihr in den letzten drei Monaten – seit ihrem ersten Rückfall in zwei Jahren – erhalten habe war gelogen. In die versprochene Tagesklinik ist sie nie gegangen. Irgendwann dann auch überhaupt nicht mehr ins Krankenhaus, auch wenn sie das dringend nötig hätte. Mittlerweile hat sie sich selbst sogar aufgegeben. Das Leben scheint für sie eine unaushaltbare Qual zu sein, die sie gelernt hat nur mit dem Alkohol zu bekämpfen. Ich stehe nun ohnmächtig da und weis nicht wie ich ihr helfen kann. Durch meine Therapie weis ich, dass dies warscheinlich gar nicht geht. Aber tief in mir sitzt immer noch die Hoffnung, dass es nur diese eine Sache gibt, die ich sagen oder tun könnte, mit der sie die nötige Kraft wiedergewinnen könnte, um erneut ein glückliches Leben zu führen.

Eine meiner kleineren Schwestern hat meine Situation perfekt ausgedrückt: Sie weis nicht, was als nächstes kommt. Im Gespräch fand ich es heute so wunderbar, wie sie ihre Gefühle ausdrücken kann. Gleichzeitig wissen wir alle nicht, wohin damit. Im Prinzip gibt es nur zwei Strategien. Entweder man frisst sie in sich hinein und macht es mit sich selbst aus. Oder der Hass auf die Eltern überwiegt die Liebe so sehr, dass um zu überleben, alle Gefühle auf diese gerichtet werden. Die dritte – und bessere – Option ergibt sich erst im Laufe des Lebens, wenn man als erwachsenes Kind einer destruktiven Familie eine gewisse Selbstständigkeit erreicht hat. Genesung.

Autor*in: Gastautor*in

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