Essen in der Mensa

»Ich wollte schon seit Jahren mal in der Mensa essen gehen, aber das habe ich bisher noch nicht geschafft«, sagte der 70-Jährige vor einigen Wochen am Ende der Selbsthilfegruppe. »Ich habe mich auch noch nicht getraut«, sagte ich, während ich mir meinen Schal um den Hals wickelte. Während des Treffens selbst hätte ich es wohl nicht geschafft etwas zu sagen. Da sitze ich immer nur schweigend auf meinem Stuhl und würde niemals unaufgefordert einen Ton herausbringen.

In der Mensa essen zu gehen löst in mir tausend Angstgedanken aus.

Die Vorstellung in die Mensa zu gehen, löst in mir die verschiedensten Ängste aus. Auf der einen Seite sind da die essgestörten Gedanken, die das Essen an sich schwierig machen. Unbekanntes Essen. Unbekannte Kalorien. Darf ich meinen Teller aufessen oder denken die anderen dann ich sei verfressen? Dieser Gedanke leitet dann auch schon auf die sozialen Ängste über. Was denken die Anderen über mich? Was mache ich, wenn ich mich beim Essen ungeschickt anstelle? Wenn ich kleckere, mir das Besteck aus der Hand rutscht, ich mich verschlucke und husten muss? Was mache ich, wenn ich im schlimmsten Fall stolpere, mir das Tablett aus der Hand fliegt, scheppernd auf dem Boden landet und mich alle Menschen in dem Speisesaal anschauen, lachen und schlecht über mich denken? Und dann kommt noch hinzu, dass ich an der Theke ja auch erst einmal sagen muss, welches Gericht ich haben möchte. Was mache ich dann, wenn in dem Moment kein Ton aus meinem Mund kommt? Oder wenn ich durch die Angst zu leise spreche, sodass man mich nicht versteht, man mir die Angst und Unsicherheit anmerkt und die Menschen sich denken: »Was ist das denn für eine?! Nicht mal sprechen kann die!«

Geteilte Angst ist halbe Angst.

»Ich war immer noch nicht in der Mensa«, erzählte mir der 70-Jährige einige Wochen später vor Beginn des Treffens. »Und du?« »Ich auch nicht«, sagte ich und dachte mir: Das werde ich wohl auch niemals. Denn alleine irgendwo essen zu gehen oder nur in ein Café ist für mich absolut unmöglich. »Wir könnten ja auch mal zusammen gehen«, schlug er das vor, was ich mir schon Wochen zuvor gedacht habe. Bzw. war mein Gedanke: In einer jungen Gruppe würde ich das vielleicht vorschlagen, aber wieso sollte der alte Mann mit mir in die Mensa gehen wollen? »Okay«, sagte ich und zwei Tage später trafen wir uns vor der Mensa. Um 14 Uhr – wenn nicht mehr so viel los ist. Wir wollten die Herausforderung schließlich nicht gleich übertreiben.

Natürlich bin ich nicht gestolpert, habe mich nicht am Essen verschluckt und mein Besteck ist mir auch nicht auf den Boden gefallen.

Wir bestellten nacheinander unser veganes Kartoffel-Curry indischer Art und setzten uns an einen Tisch in der Ecke. Zu der Uhrzeit war es wirklich ziemlich leer. Vereinzelt saßen noch Studierendengruppen an den Tischen und haben ihr Mittagessen gegessen. Jede*r war mit ihrem*seinem eigenen Essen beschäftigt und niemand schaute uns an. Also waren viele der Ängste mal wieder völlig umsonst. Angespannt war ich aber irgendwie trotzdem. Denn auch wenn mein Gegenüber ebenfalls ein Mitglied der Selbsthilfegruppe ist, war es trotzdem noch eine soziale Situation, in der wir uns befanden. Und soziale Situationen machen mir schließlich Angst.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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