Liebes Zimmer,

Ich möchte nicht despektierlich klingen, eigentlich müsste ich dich ja liebe Wohnung nennen, weil du eine Wohnung bist, aber sind wir doch Mal ehrlich, du bestehst lediglich aus einem Zimmer. Einem Wohnzimmer mit direkt an dich angeschlossener Küche. Deswegen sei mir auch nicht böse, wenn ich dich fortan Zimmer nenne.
Wir haben im letzten Jahr so viel Zeit wie noch nie miteinander verbracht. Ich kenne nun gefühlt jeden deiner Winkel, jede deiner Ecken und alle deine Wände. Allzuviel gibt es davon ja nicht, und umso schneller habe ich dich kennenlernen dürfen.
Man sagt, dass in einer jeden Beziehung das siebte Jahr das verflixte ist. Bei uns beiden kann ich das nicht bestätigen. So lange kennen wir uns ja noch gar nicht und dennoch haben die äußeren Umstände uns dazu gezwungen, das verflixte Jahr bereits früher einzuläuten. Natürlich wirkst du häufig durch deine Größe… Größe ist hier das falsche Wort… aber das Gegenteil davon möchte mir einfach nicht einfallen, dann bleibe ich doch bei der Größe. Natürlich wirkst du durch deine Größe sehr beengend und viel gibt es in dir auch nicht zu entdecken. Ebenfalls hast du die Eigenschaft, bei aller Stabilität deiner Wände, mir deine Decke auf den Kopf fallen zu lassen. Eine Belastungsprobe, durch die wir beide gehen mussten, waren die trüben verregneten und zum Teil auch stark verschneiten kalten Wintertage. Im Sommer war für uns beide noch einfach. Die Motivation vor deine Tür zu gehen war groß. Auch wenn vieles geschlossen war, gab es einiges an Aktivitäten, die ich im Freien machen konnte. Ich weiß, was du jetzt sagen wirst, auch der Winter hat einiges zu bieten und tief in meinem Inneren weiß ich das auch, nur fällt es mir schwer, im Winter vor deine Tür zu gehen. Deine Couch und das Bleiben in der Wärme ist einfach viel zu verführerisch. Ich bin froh, dass das Wetter wieder besser wird und bei aller Liebe zu dir, ich problemlos vor die Tür gehen kann, ohne erst einige Runden mit dem inneren Schweinehund ringen zu müssen. Eigentlich weiß ich, dass du nichts dafür kannst und das Problem eben dieser innere Schweinehund ist. Wäre er nicht eine Eierlegendewollmilchsau, ein Meister der Verführungskunst, ein dermaßen gewieftes Wesen, könnte ich seinen Bann viel einfacher brechen.
Der Grund, warum ich begonnen habe, dir diesen Brief zu schreiben war, dass ich mich so richtig über dich auskotzen wollte und letzten Endes dir die Schuld des Schweinehundes in die Schuhe schieben wollte. Jetzt, beim Verfassen dieser Zeilen merke ich jedoch, dass dich keine Schuld trifft. Natürlich hast du deine Macken, wer hat die nicht, aber die Verantwortung dafür, wie ich die Zeit mit dir verbringe liegt ganz klar bei mir. Ich muss lernen, die viele Zeit, die wir beide seit nun schon fast einem Jahr haben, sinnvoll zu nutzen. Du wirst mich von dieser Verantwortung nicht entbinden können, wie denn auch, schließlich bist du nur ein Zimmer… Nein das wäre falsch, schließlich bist du nur eine Wohnung…  das fühlt sich auch irgendwie nicht richtig an. Jetzt weiß ich auch warum, weil du meine Wohnung bist. 

Auch wenn du meine Wohnung bist und mich nicht aktiv von meinem inneren Schweinehund trennen kannst bin ich um jeden Tipp von dir Dankbar. 

Ich hoffe bald von dir zu hören liebe Wohnung, 

In freudiger Erwartung auf eine Antwort,

Bossi

03.03.2012

Autor*in: Bossi

Ich möchte meine eigene Gruppe etwas anders angehen und die üblichen Runden einer Selbsthilfegruppe mit ein paar innovativen Methoden etwas beleben. Über eben diesen Einsatz von Methoden in der Selbsthilfe, meine Erfahrungen damit und meine persönliche Suchtgeschichte möchte ich im Blog berichten und mich darüber austauschen.

in Zusammenarbeit mit:

Logo Schon mal an Selbsthilfegruppen gedacht?