Gastbeitrag von: lebenswach

Eh schon ein heikles Thema. Wenn man dann aber noch über die eigene Hochbegabung spricht, bewegt man sich auf einem ganz schmalen Grad zwischen Neid und Bewunderung. Zwischen arrogant wirken und irgendwie geheimnisvoll. Das ist zumindest mein Eindruck, wenn ich von meinem IQ erzähle. Deshalb habe ich das fast nie getan, traue mich in letzter Zeit aber immer öfter, so auch hier.

Kurz zum Begriff: Als hochbegabt werden diejenigen eingestuft, die bei einem IQ Test einen Wert erzielen, der zwei Standardabweichungen über dem Durchschnitt liegt. Das entspricht einem Prozentrang von 98. Das heißt, dass die intelligentesten 2% der Menschen als hochbegabt gelten (Angenommen, der IQ wäre ein perfektes Mittel, um die Intelligenz zu messen. Aber dieses Thema möchte ich hier nicht diskutieren.). Bei den meisten IQ Tests in Deutschland entspricht eine Standardabweichung 15 Punkten, der Durchschnitt liegt bei 100 Punkten, man ist also hierzulande ab einem IQ von 130 hochbegabt. Das ist aber reine Definitionssache und kann in anderen Ländern anders aussehen.

Als ich im Februar 2016 den Brief mit meinem Testergebnis erhielt – der Test bei Mensa, einem Hochbegabtenverein, war zwei Wochen her – war ich zwar einerseits schockiert, aber irgendwie nicht überrascht. 140. Nicht nur so ein bisschen hochbegabt, sondern so richtig. Es passte gut zu mir. Mein Leben lang hatte ich mich irgendwie komisch gefühlt, aber konnte nicht genau sagen, woran das lag. Die soziale Ängstlichkeit. Die Einsamkeit, die ich auch und vor allem in Anwesenheit anderer Menschen gespürt hatte. Als würde ich eine fremde Sprache sprechen, die keiner außer mir versteht. Das Gefühl, von niemandem geliebt zu werden. Denn wie sollte man mich lieben, ohne mich zu verstehen? Und jetzt fühlte ich mich, als würde das alles irgendwie besser zusammenpassen. Als wäre man die ganze Zeit daran gescheitert, ein Puzzle ohne Motiv zu lösen, und nun sei endlich das Motiv erschienen. Das Puzzeln ist zwar immer noch Arbeit, aber mit Motiv ergibt es endlich Sinn.

Eigentlich absurd. Warum messe ich einer Zahl soviel Bedeutung zu? Eigentlich ist es doch wie Blutdruck messen: Man ordnet einer Größe, die auch vor der Messung schon da war (ohne Blutdruck kann man ja schlecht leben), einen Zahlenwert zu. Vor dem Test war ich ja schon genauso intelligent. Der einzige Unterschied ist, dass ich es jetzt offiziell benennen kann. Und trotzdem hat mich die Zahl sehr verändert.

Ich machte mir große Vorwürfe, dass meine Leistungen ja keiner 140 entsprächen. Ich hatte nie eine Klasse übersprungen, bei Jugend forscht gewonnen oder Chinesisch gelernt.

Dass ich dennoch viele sehr gute Leistungen in Klausuren und Wettbewerben erbracht hatte, ignorierte ich. Genau wie die noch viel bedeutendere Tatsache, dass Leistung nicht das Wichtigste im Leben ist. Ich dachte durch die Erziehung meiner Eltern sowieso schon, im Leben ginge es darum, möglichst viel zu leisten. Das wurde durch die Hochbegabung nur noch verstärkt. Zwei Monate nach der „Diagnose“ Hochbegabung fing ich an, neben der Schule (damals war ich in der elften Klasse) Physik zu studieren. Morgens um fünf Aufstehen, erstmal Hausaufgaben und Sport machen, dann zur Schule. Zwischendurch die Schule verlassen, um zur Uni zu fahren. Danach arbeiten, bis ich gegen 20 Uhr totmüde ins Bett fiel. Am Wochenende für die Uni lernen, nur Sonntagnachmittag war frei.

Nach dem Abi setzte ich mein Physikstudium fort. Im zweiten Semester – ich hörte damals sieben Module gleichzeitig, vorgesehen waren vier – begann dann schlagartig meine Angststörung. Ich möchte hier nicht darauf eingehen, was genau passiert ist, aber der viele Stress hat mit Sicherheit dazu beigetragen. In der darauffolgenden Therapie kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass ich nicht so viel leisten MUSS. Niemand zwingt mich dazu. Ich hatte mich immer dazu verpflichtet gefühlt, viel zu leisten, weil ich es ja kann. So als sei ich als Hochbegabte mit dafür verantwortlich, zum Beispiel die Physik voranzubringen.

Eigentlich ein ziemlich arroganter Gedanke, weil ich die Leistungen anderer Menschen dadurch abwertete. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass die Meinungen und Leistungen jedes Menschen gleich viel wert sind. Das kam kurz nach der Erkenntnis, dass mir Zufriedenheit wichtiger ist als Leistung. Ich habe es genau wie jeder andere Mensch verdient, glücklich zu sein. Ich bin niemandem etwas schuldig, nur weil ich schneller denken kann als 99,6% der Menschen.

Mittlerweile versuche ich nicht mehr, meine Hochbegabung so gut es geht zu „nutzen“. Da ist sie immer, ich kann sie nicht einfach abschalten. Aber ich sehe sie nicht mehr als Potential, das darauf wartet in Leistung umgesetzt zu werden, sondern eher als Persönlichkeitseigenschaft. Gerade im sozialen Kontakt eine eher schwierige Eigenschaft, die mich immer wieder an mir selbst zweifeln lässt. Es ist nie leicht, aus der Norm zu fallen, in welchem Bereich auch immer. Gleichzeitig freue ich mich über die Vorteile, die sie mir bringt, wenn ich zum Beispiel etwas strukturieren möchte. Das geht nunmal sehr viel schneller als bei den meisten anderen Menschen. Ich bin dankbar dafür, aber nicht stolz drauf. Warum auch? Hochbegabt zu sein ist keine Leistung.

Autor*in: Gastautor*in

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