Gastbeitrag von: Plaudertasche

Essstörungen sind nicht bewusst. Und das auf so vielen Ebenen. Den Personen, die sie haben sind sie oft nicht bewusst. Dem Umfeld, der Familie und Freunden sind sie oft nicht bewusst. Und dann ist da noch die Gesellschaft als Ganzes, die in so vielen subtilen Arten essgestört ist, ohne dass es irgendwem auffällt, dass jemand es kontrolliert, oder gar ändert. Letzteres ist ein so großes Thema, dass ich ein ganzes Buch darüberschreiben könnte.
Auch wenn Essstörungen so scheinen können, als wären sie ernährungstechnische Entscheidungen – wie beispielsweise Vegetarier zu werden: sie sind es nicht! Der Weg in eine Essstörung ist oft schleichend. Und das ist das Trügerische: Wo hört man auf ‚fit‘ zu sein und ab wann ist man magersüchtig? In meinem Fall begann es ganz harmlos – nach einer Trennung ein paar Kilos abgenommen. Viele Menschen essen wenig, wenn sich bei dem Gedanken an den Ex der Magen zusammenzieht. Damit es mir besser geht, fing ich an, Sport zu machen. Angefangen bei Yoga. Und ein bisschen Laufen. Weitere Kilo purzelten. An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich vor der Magersucht als ‚schlank‘ wahrgenommen wurde. Und mit dem noch geringeren Gewicht kam die Anerkennung: vor allem von Frauen. „Mensch, du siehst aber fit aus!“ oder „Wow, das ist ja eine richtige Modelfigur!“. Und man bekommt den Eindruck, mit ein paar Kilo weniger lässt sich alles wortwörtlich leichter regeln. Das gebrochene Herz ist in Schach gehalten, dafür knurrt der Magen eben etwas. Und die Seele hat nichts zu sagen, wenn der Körper arbeitet. Außerdem wurde ich jahrelang in der Schule ausgeschlossen, und jetzt wurde ich nicht nur akzeptiert, nein, man beneidete mich! Und so ging es für mich weiter, Training für einen Halbmarathon. Mindestens. Zunächst ging es noch um mein Aussehen. Ob ich es wohl schaffen würde, so ein Sixpack zu bekommen wie man es in den Medien sieht? Wieder sank mein Körperfettanteil. Und dann wurde es ein ständiges Spiel, die Kalorienaufnahme des Vortages auszugleichen oder zu unterbieten. Ich wurde Mager…süchtig. Und mir, meiner Familie und auch sonst keinem war das bewusst. Und zu unserer Verteidigung: Ich war nie untergewichtig. Nur eben sehr dünn. Und vollkommen leblos… Zerfressen von den Gedanken ans Essen und an mein Aussehen. Besessen und kompromisslos was mein Sportpensum anging. Wenn ich nicht meinen selbstauferlegten Regeln folgte, hatte ich fürchterliche Schuldgefühle und große Ängste. Und das ist es, was eine Essstörung ausmacht. Die Psyche, und eben nicht der Körper.
Nach außen präsentierte ich das Bild von perfekter Fitness. Eine Frau, die eben darauf achtet, was sie isst. In einer Gesellschaft, in der Übergewicht verbreitet ist und die meisten Menschen sich zu wenig bewegen, ist das absolut anerkannt. Und wieder kam das Lob. Meine Hunger- und Sportrituale festigten sich. Und dann trat eine Person in mein Leben, die alles ändern sollte. Die mich wachrütteln würde. Dankbar bin ich dieser Person dafür erst, seitdem ich eine Therapie angefangen habe. Diese Person zeigte mir alles, was ich wegen der Essstörung verpasste: ein entspanntes gemeinsames Abendessen oder Frühstück, einen Ausflug oder gar Urlaub machen, einen Abend mit Freunden bei dem man alles Essen kann, ohne danach Sport machen zu müssen.
Lange suchte ich nach einer Lösung, beide Welten – ein normales Leben und eine Essstörung – zu vereinigen. Aber ich fand keine. Meine Suche wurde verzweifelt. Ich war immer noch sicher, dass es möglich sein musste, die Obsession mit meinem Körper fortzuführen und wieder ‚wie früher‘ zu werden. Den endgültigen Schlag der Verzweiflung gab mir die COVID-19-Pandemie und der Verlust der Person, die in mein Leben getreten war. Und an dieser Stelle kam die echte Verzweiflung raus. Nicht die abgestumpfte Verzweiflung des Versuchs, meine Essstörung mit meinem Leben in Vereinigung zu bekommen. Und das war der Punkt, an dem ich mich entschieden habe: Ich will mein Leben zurück! Nicht mit einer Essstörung leben können. Sondern Leben können.
Ich aß mehr. Am Anfang nahm ich nicht zu – das fand ich damals super. Dann nahm ich doch etwas zu. Und noch etwas mehr. Mein Gewicht störte mich, aber ich wusste, dass es nur einen Weg aus dem Hungern gab: Essen! Um mit den Schuld- und Angstgefühlen umzugehen, brauchte es mehr als Essen – eine Therapeutin, meine Eltern, gute Freunde und Arbeitskollegen. Ich entschied mich dafür eine Therapie anzufangen, trat einer Selbsthilfegruppe bei. Öffnete mich Freunden und Familie gegenüber. Fast alle waren so geblendet wie ich von meinem vorherigen ‚fitten‘ Lebensstil.  Wenn ich Außenstehenden mittlerweile erzähle, dass ich wegen einer Essstörung in Behandlung bin, sehe ich oft Blicke von meinen Augen zu meinem Körper herabwandern. Es besteht weder in unserem persönlichen Umfeld noch in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, dass sich Essstörungen auf ganz unterschiedliche Weisen manifestieren können. Menschen aller Geschlechter, aller Körpergrößen und aller Altersgruppen können essgestört sein. Wenn wir Essstörung auf den Körper reduzieren, geben wir den Essstörungen in den Köpfen der Betroffenen recht. Nach dem Motto: Du bist, was dein Körper nach außen zeigt. Es wird so oft vergessen, dass Essstörungen psychische Erkrankungen sind. Und die sind eben unsichtbar.
Betroffene merken anfangs, ähnlich wie ich, oft gar nicht, dass etwas nicht stimmt. Und können es dementsprechend nur schwierig selbst formulieren oder an Ärzte und Therapeuten kommunizieren. Noch weniger ist dem Umfeld der Betroffenen klar, was da gerade abgeht. Gerade bei Magersucht (Anorexie) und Ess-Brech-Sucht (Bulimie) sowie Binge Eating (Essattacken) passiert wie bei anderen Suchterkrankungen viel im Stillen, Geheimen, Dunkeln. Und ganze zwei Drittel der typischen Essstörungen beziehen zentral sich auf das Essen, nicht auf das Hungern. Betroffene sind nicht (!) typischerweise untergewichtig.
Ich habe bestimmt kein Patentrezept dafür, Essstörungen aufzudecken. Aber sowohl Betroffene als auch Angehörige sollten wissen, dass Essstörungen nicht bewusst sind. Und deswegen auch keine Entscheidung. Ich hoffe, dass das Teilen meiner Erfahrungen ein kleines Stück dabei hilft, ein größeres Bewusstsein dafür zu bekommen, wie Essstörungen funktionieren. Und vielleicht können wir alle damit beginnen, mehr uns selbst und auch andere wahrzunehmen und zu beobachten. Unabhängig davon, wie sie oder wir aussehen.

Autor*in: Gastautor*in

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