Ein Licht am Himmel. Sonnenaufgang über Sofia.

Heute ist es schon ein Jahr her und ich kann kaum glauben, dass der Kalender schon wieder den 14. Januar zeigt; dass schon ein Jahr vergangen ist. Denn die Bilder dieses Tages sind noch so präsent vor meinen Augen als sei es erst vor wenigen Wochen gewesen.

Wir sitzen am Frühstückstisch und das Telefon klingelt. Meine Mama möchte am Nachmittag ihren Geburtstag nachfeiern. „Das ist bestimmt Oma, die sagt, dass sie nicht kommt“, sagen wir und es ist tatsächlich meine Oma. „Jetzt gehen wir mal nicht von dem schlimmsten aus“, höre ich meine Mama sagen und ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Bestimmt ist irgendwas mit Papa. Bestimmt ist irgendwas passiert. Vielleicht ist er im Krankenhaus? Meine Mama legt auf und ist dabei meinen Onkel anzurufen. „Er ist heute Morgen nicht ans Telefon gegangen. Jetzt ist der Onkel rüber gegangen, um zu schauen, ob alles gut ist. Aber den hat die Oma jetzt auch nicht mehr erreicht“, klärt mich meine Mama auf. „Es kann auch sein, dass es zu spät ist“, fügt sie noch hinzu und ich merke wie ich anfange zu zittern. „Aber wir wollen mal nicht von dem schlimmsten ausgehen.“ Trotzdem kullert mir eine Träne aus den Augen. Meine kleine Schwester sitzt neben mir und ich halte ihre Hand. Meine Mama ist in meinem Zimmer und hat endlich meinen Onkel erreicht. An ihren Worten merke ich, dass es nun heißt: Gehen wir von dem schlimmsten aus. „Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein“, sagt sie zu uns und ab dann sehe ich nur noch Tränen und Umarmungen. Mit zitterndem Körper auf wackligen Beinen ziehen wir uns an, gehen zum Auto, holen meine Oma ab und fahren zur Wohnung meiner Kindheit. Mein Onkel und meine Tante sind schon da. Wir sitzen im Wohnzimmer, auf dem Sofa, auf dem wir zuletzt am Weihnachtsnachmittag saßen und erleichtert waren, als wir uns wieder erheben konnten. Und jetzt sitzt man wieder da. Und möchte dort nicht sein. Ein Schweigen, das nur von Sätzen wie „Ich kann das gar nicht glauben“ unterbrochen wird. Meine Schwester und ich gehen nach draußen. Spazieren Arm in Arm immer wieder um den Block. Bis das schwarze Auto gekommen und wieder weggefahren ist. Am Nachmittag kamen trotzdem alle zu uns. Aus der Geburtstagsfeier wurde eine Trauerfeier. Aber alleine sein wollte auch keiner.

Ich merke wie sich auch jetzt beim Schreiben ein kalter Schauer durch meinen Körper zieht. Ein flaues Gefühl im Magen. Schwerer Druck auf der Brust. Die Buchstaben verschwimmen durch die Tränen in meinen Augen. Trauer. Schuld. Ärger. Sorge. Enttäuschung. Hilflosigkeit. Genauso viele verschiedene Gedanken und Gefühle in mir wie vor einem Jahr.

Ich habe mich schnell wieder auf den Alltag konzentriert. Möglichst wenig Zeit zum Nachdenken haben. Meine Schwester ist am Tag darauf direkt wieder zur Schule gegangen. Ich wie jeden Montag zur Therapie und danach auf einen langen Spaziergang mit meiner besten Freundin. An die folgenden Tage erinnere ich mich nicht mehr. Am Donnerstag hatte ich ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum, habe etliche Stunden für den Rückweg gebraucht, weil ein Sturm den kompletten Zugverkehr lahmgelegt hat und kam gerade noch pünktlich am Arbeitsplatz von meiner Mama an, damit wir erst meine Schwester, dann meine Oma und meinen Onkel abholen konnten, um zum Bestatter zu fahren. Ihn ein letztes mal sehen.

Das ist ein Bild, das ich nie vergessen werde. Wie er da lag, im Anzug, die Hände zusammengefaltet. Die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Rosenblätter drum herum. Friedlich. Und so unwirklich.

Es gab viele Unsicherheiten. Ob wir ihn überhaupt sehen dürfen. Ob die Beerdigung und die Trauerfeier durch den Sturm wirklich stattfinden können. Glücklicherweise wurde der Friedhof erst ein paar Tage später gesperrt. Am Freitag saßen wir dann also in der Kapelle und als die Pastorin meine Reise mit Papa zum Eisbär Knut nach Berlin erwähnte, musste ich trotz Tränen etwas lächeln.

Was ich auf jeden Fall in der Zeit gemerkt habe ist, dass das Leben weiter geht und dass auch wieder schönere Momente geschehen. Dass es Menschen gibt, die für einen da sind. Und trotzdem merke ich, dass ich das ganze noch nicht wirklich verarbeiten konnte. Dass es jetzt, wo ich mehr Freizeit habe und mehr Zeit zum Nachdenken, immer häufiger in meinen Kopf kommt. Und dann frage ich mich, ob man das überhaupt verarbeiten kann oder ob es vielleicht auch okay ist, immer wieder ein bisschen traurig zu sein. Aber darf ich überhaupt traurig sein, wenn so viele Schuldgefühle in mir sind? Wenn ich jedes mal froh war, ihn nicht sehen zu müssen, weil ich es nicht ertragen habe zu sehen, wie schlecht es ihm geht? Darf so eine (schlechte) Tochter dann um ihren Vater trauern?

Ich habe ein altes Tagebuch gefunden. Ich war wohl 13 Jahre alt. „Irgendwie ist er für mich gar nicht mehr mein Papa“, steht da geschrieben. Vielleicht hat schon die kleine Mutsammlerin damals angefangen zu trauern und braucht jetzt noch mehr Zeit, um zu akzeptieren, dass nun all die Hoffnungen, die sie sich trotzdem all die Jahre gemacht hat, nicht mehr wahr werden können.

Autor*in: Mutsammlerin

An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.

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