Abstand halten. Keine Menschen treffen. Rückzug in die eigenen vier Wände. Was für viele Menschen momentan eine Ausnahmesituation darstellt, könnte auch das Leben vieler Sozialphobiker*innen beschreiben. Das führt schnell zu der Annahme, dass die aktuelle Situation für Menschen mit sozialer Phobie eine traumhafte Zeit sei. Aber ist das wirklich so?
Weniger Ängste durch Kontaktbeschränkungen
Auf den Straßen begegnet man weniger Menschen, es gibt keine überfüllten Supermärkte und überall wird Abstand gehalten. Niemand kommt einem zu nah. Das ist angenehm. Das Arbeiten im Home Office kann viele Ängste reduzieren. Kein Smalltalk mit Kolleg*innen. Für viele Sozialphobiker*innen sind Partys und große Menschenansammlungen ein Graus. Deshalb kümmert es sie nicht, dass all die Veranstaltungen abgesagt werden. Viele verbringen auch im normalen Alltag gerne Zeit zuhause. In Sicherheit. Zum Kraft auftanken.
Wenn all die Stützen wegbrechen…
Menschen mit sozialer Phobie haben meist eher wenige soziale Kontakte. Aber deshalb sind diese umso wichtiger und können eine große Stütze sein, die nun wegfällt. Eine weitere Stütze kann eine feste Struktur sein. Auch die ist momentan völlig auf den Kopf gestellt oder existiert im schlimmsten Fall überhaupt nicht.
Was man auch nicht vergessen darf: Eine soziale Phobie ist eine Angsterkrankung. Dadurch reagiert man noch sensibler auf die angespannte, unsichere, angstbesetzte Stimmung in der Gesellschaft. Ich hatte schon lange nicht mehr so viele Panikattacken wie in den letzten Wochen…
Mir muss es gut gehen! Oder nicht…?
Sozialphobie-Gruppen auf Facebook sind voll mit Beiträgen wie: „Es ist das goldene Zeitalter für Sozialphobiker*innen“. (Selbst wenn es so wäre finde ich diese Bezeichnung moralisch ziemlich unangemessen.) Die Leute aus meiner Selbsthilfegruppe berichten, dass sich ihr Alltag kaum verändert hat. Therapiegespräche werden abgesagt, weil es aktuell nichts zum Besprechen gibt. Ich freue mich natürlich für jede*n, der*dem es in dieser Situation gut geht. Mir geben diese verallgemeinernden Aussagen, jedem*r Sozialphobiker*in würde es jetzt super gut gehen, allerdings das Gefühl, selbst unter Betroffenen nicht auf Verständnis zu stoßen. Denn mir geht es absolut nicht gut.
Die fehlende Struktur. Die viele Unsicherheit. Angst. Panikattacken. Rückfälle in alte Verhaltensweisen. Alle Veranstaltungen und Projekte sind abgesagt oder verschoben. Lichtblicke, Motivation durchzuhalten und weiterzukämpfen und aus denen ich Mut schöpfen könnte, existieren vorerst nicht mehr. Kraftlos. Mutlos. Antriebslos. Sitze ich stundenlang reglos in meinem Zimmer. Warte, dass der Tag vorüber geht. Und der nächste. Und der nächste. Und dazu der Druck: Mir müsste es doch jetzt gut gehen! Der Gedanke: Niemand versteht mich. Das Gefühl: Mit meiner Angsterkrankung und gleichzeitig dem Streben, in vielen Projekten mitzuwirken, passe ich nirgendwohin in dieser Welt.
Autor*in: Mutsammlerin
An ein Leben ohne Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann davon träumen, die Angst aushalten und für meine Träume kämpfen.
Die „Corona-Situation“ besteht bei mir seit ca 6 Jahren nach dem Tod meines Verlobten.
Ich bin sozialkontaktlich immer mehr im Rückzug und fühle eine Einsamkeit, die alles abtötet.
Sicher habe ich Freunde, sogar im selben Haus – trotzdem kommt niemand zu mir…
Jede Erklärung meiner Krankheiten führt nicht zum Verständniss….
Die 8 Wochen in einer Tagesklinik waren der Horror für mich als Sozialphobiker und sind nun auch schon 5 Monate her – ich habe immer noch keinen Therapeuten und Facharzt und fühle mich vom Gesundheitssystem auf ganzer Linie alleine gelassen!
Jetzt gehe ich nach 6 Monaten wieder arbeiten und hoffe, dass ich mich wieder ablenken kann, ohne erneut von der Vergangenheit eingeholt zu werden…
Hallo Nick.
das hört sich schlimm an und schlimmer fühlt es sich bestimmt an. Danke, dass du es mit uns teilst! Es wird wertgeschätz.
Leider ist es echt oft ein Kampf mit diesem Gesundheitssystem, den man gewinnen kann…aber nicht muss.
Du gehst wieder arbeiten! Ist das ein Fortschritt für dich, wietere Belastung oder beides?
“ hoffe, dass ich mich wieder ablenken kann, ohne erneut von der Vergangenheit eingeholt zu werden…“ Ich wünsche dir, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht und alle Kraft dieser Welt.
Liebe Grüße
Hey Mutsammlerin, ich schick dir ganz viel Kraft!
Deine Rainbow
Herzlichen Dank!
Hallo liebe Mutsammlerin, das tut mir leid, dass diese Zeit für dich noch schwerer ist als es ohnehin schon ist. Ich persönlich fühle mich recht wohl. Zu Beginn hatte ich zwar vermehrt Angst, erster Einkauf mit Maske, halten sich die anderen daran? Sind die Leute evtl gereitzer usw. Hatte leider auch ein paar unschöne Begegnungen zu Beginn. Aber ab da wurde meine Sozialphobie immer schwächer! Ich stehe aktuell an einem Punkt, an dem ich noch nie zuvor war. Ich habe die ganze Zeit über immer wieder kleine Angst-Expos gemacht. Wie Termine per Telefon ausmachen, freundlich zu der Kassiererin sein, versuchen gleichmäßig/ruhig zu atmen beim In-der-Schlange-stehen. Endlich konnte ich die Angstsituationen, denen ich ausgesetzt werde, besser dosieren. Es war nicht mehr eine Angst- und Panik-Situation nach der nächsten, aus denen ich so schnell wie möglich flüchten musste, und das Erlebnis so schlimm war, dass ich vor dem Nächsten Mal noch mehr Angst aufbauen konnte. Ich hatte endlich mal Erholung! Längere Pausen dazwischen. Es war jetzt immer öfter MEINE Entscheidung mich einer Angst auszusetzen. Nicht eine Situation nach der anderen die auf mich einstürzt. Verstehst du was ich meine? Mir tut es gut. Ich muss dazu sagen, dass ich eine ganz tolle Therapeutin habe, die auch weiterhin für mich da war. Und ich lebe mit meinem Partner zusammen, und bin deshalb auch nicht so extrem isoliert. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für Menschen die alleine leben, gerade furchtbar ist. Aber ich habe schon vor Corona und Lockdown so gelebt, außer Maske tragen hat sich tatsächlich gar nichts für mich geändert, und das hat mich auch zum Nachdenken gebracht. Das Leben das ich seit über 10 Jahren führe, ist anscheinend für einen Großteil der Bevölkerung der reine Horror. Das ist ein seltsames Gefühl.
Liebe Maja, vielen Dank für deinen Kommentar und dass du deine Erfahrungen teilst. Es freut mich sehr zu lesen, dass die Situation dir die Möglichkeit bietet, dich bewusst und selbstbestimmt Angstsituationen zu stellen. Es klingt sehr einleuchtend und nachvollziehbar, was du beschrieben hast. Vielleicht sollte ich mir auch immer mal wieder bewusst eine Angstsituation raussuchen und versuchen, diese zu bewältigen. Danke für die Inspiration dazu 🙂
Das seltsame Gefühl, überall mitzubekommen, dass das Leben, was man auch sonst so führt oder zumindest so ähnlich, für die meisten Menschen der reine Horror ist, kenne ich auch (und führt bei mir regelmäßig zu starken Selbstzweifeln…)
Liebe Grüße!
Also mir gehts auch nicht besser. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich extrem gestresst. Fremde Menschen waren vor Corona aushaltbar, weil ich keinen erzwungenen Kontakt haben musste und sie mit Abstand beobachten konnte. Jetzt tragen alle Maske und man erkennt ihre Mimik nicht mehr, was auf mich einfach nur bedrohlich wirkt. Zudem kann ich selbst keine Maske tragen und werde deshalb nicht nur angesprochen, sondern muss vielfach auch noch mein Attest herzeigen, wo mein Name und meine Adresse etc. vermerkt sind. Für mich ist es kaum aushaltbar, dass Fremde plötzlich wissen, wie ich heiße und wo ich wohne, obwohl ich nichtmal weiß, wer das jetzt weiß. U.a. hatte ich aus diesem Grund seit 20 Jahren das erste Mal wieder eine Panikattacke in der Öffentlichkeit. Es ist auch nicht nur, dass ich jetzt jedem meine Identität offenbaren muss, auch diese Willkür durch den Staat, die Unberechenbarkeit, die ständige Kontrolle der man sich nicht wirklich entziehen kann und der im Raum stehende Verlust der körperlichen Selbstbestimmung (Testen, Impfung etc.), bringt mich an den Rand der Belastbarkeit. Ich bin seit Monaten krank geschrieben, habe ständig Alpträume und kämpfe wieder damit, dass ich überhaupt den Tag überlebe. Von meinem Hausarzt ist keine Hilfe zu erwarten, denn der droht mir jedesmal nur, mich einweisen zu lassen, was die düstern Gedanken nur noch verstärkt. Die Krankenkasse macht auch Druck, dass ich mir psychotherapeutische Hilfe suchen soll, obwohl ich bereits bei einem Psychiater, als auch einer Psychotherapeutin war und beide eine Behandlung abgelehnt haben und dieses der KK auch vorliegt. Im Moment bin ich so weit, dass ich wohl besser meinen Job kündigen werde, um dem Druck der Krankschreibung nicht mehr ausgesetzt zu sein. Zumal ich beim letzten Termin beim Hausarzt eine Panikattacke hatte, weil er wieder von Einweisung gesprochen hat und ich da jetzt grundsätzlich nicht mehr hingehen werde, ergo eh keine weitere Krankschreibung bekomme.
Wow welch ein toller Beitrag. Habe mich lange nicht so verstanden gefühlt. Das beschreibt meinen Gefühlszustand sehr gut.
Es stimmt schon feste Events und Stützen brechen weg. Mich macht das wütend – gleichzeitig fehlt mir aber die Kraft mich dagegen aufzurichten. Jeder Austausch mit Fremden kostet mich so viel Kraft seit diesem Jahr. So gehe ich meinem Trott nach in der Hoffnung, dass es bald wieder besser wird.
Das kann ich auch sehr gut nachfühlen. Viel Kraft & Mut für dich!
Ich muss ehrlich sagen, ich hab mich tatsächlich wohl gefühlt mit Kontaktbeschränkung, etc.
Die Quittung kam allerdings danach. Ich war vor Corona bereits recht geübt darin, mit der Angst umzugehen. Das habe ich in dieser Zeit ein Stück weit verlernt und ich schaff es aktuell nicht mehr, es wieder zu reaktivieren
Das kommt mir sehr bekannt vor – ich habe es auch stark gemerkt, dass mich die Zeit sehr zurückgeworfen hat und viele Situationen, die zuvor schon etwas einfacher geworden waren, jetzt dann wieder deutlich schwieriger sind. Viel Kraft & Mut für dich!