Nie hätte ich es gedacht. Nie hätte ich es für möglich gehalten. Niemals für bare Münze genommen, wenn mir jemals jemand gesagt hätte, dass ein Glückskeks mich in eine Identitätskrise stürzen wird. Dass ich mich daran verschlucken könnte schon eher. Dass ich einen zu viel esse, vielleicht. Dass ich herzlich darüber lache, bestimmt. Dass ich die Nachricht darin mit einem „Kalenderspruch“, „Horoskospruch“ oder „Was ein Quatsch“ quittiere, definitiv. Doch dass ein so einfacher und banaler Spruch einen ganzen Zirkus an Gedanken in meinem Kopf auslöst, hätte ich niemals jemals für möglich gehalten.

Doch was macht diese Druckertinte auf dem leicht glänzenden Stück Papier, diese Ansammlung von Buchstaben, diese wenigen zu einem kurzen Satz gereihten Worte so besonders. Eigentlich nichts und gleichzeitig sehr viel. Nicht unbedingt was den Satz angeht, der da steht, es ist vielmehr das, was mein Kopf daraus macht.

Perfektion ist immer schon ein Thema für mich gewesen. Als jemand, der unter einer körperlichen Behinderung leidet, musste ich immer mehr leisten als die anderen, um ein „normales“ Niveau zu erreichen. Auch sprachlich musste ich immer mehr als andere leisten. Als Migrantenkind, das erst mit 9 Jahren nach Deutschland kommt und die Sprache nicht versteht, war es für mich eine große Herausforderung durch die Schulzeit zu kommen. Sätze mussten perfekt sein. Kein Satz kam mir über die Lippen, wenn ich diesen nicht in einem aktzentfreien Deutsch artikulieren konnte. Und so gab es häufig Situation, in denen ich stumm bleib. Stumm, damit man nicht erkennt, dass ich anders bin. Stumm, weil es mir schwer gefallen ist, nicht normal zu sein. Stumm, weil ich mich von den anderen nicht unterscheiden wollte. Was sollen die anderen bloß von mir denken, wenn ich so rede?

Da Perfektion und der Perfektionismus ein Monster ist, das niemals satt wird und fortwährend seinen eigenen Wirtskörper frisst, reichte mir das schleifen meiner Sprache schnell nicht mehr aus. Die war mittlerweile glattgeschliffen und „perfekt“. Von den einheimischen Biodeutschen nicht zu unterscheiden. Häufig sogar besser. Vielleicht nicht im Hinblick auf den Dialekt, da ich nur Hochdeutsch gelernt habe. Aber ist das nicht das  „das perfekte Deutsch“ das gesprochen werden sollte? Plötzlich ging es nicht mehr darum, wie ich etwas sage, sondern darum was ich sage. Es durften nur noch Sätze über meine Lippen kommen, mit deren Inhalt ich auch vollständig zufrieden bin. Und so gab es Situationen, in denen ich stumm blieb. Stumm, damit man nicht erkennt, dass ich Fehler mache. Stumm, damit niemand weiß, dass ich im Moment vielleicht etwas planlos bin. Stumm weil keinem auffallen sollte, dass ich nicht so perfekt bin. Was sollen die anderen bloß von mir denken, wenn ich sowas von mir gebe?

Anstrengend dieser Zustand. Nur schwer auszuhalten. Prädestiniert, um unglücklich zu werden. Und letzten Endes vollkommen übertrieben. Ob ich jetzt was in einem Deutsch von mir gebe, in dem man den Akzent der Muttersprache heraushört und selbst wenn das was ich von mir gebe Fehler enthält, ist doch vollkommen egal. Hauptsache ich sage etwas, wenn ich etwas zu sagen habe und halte mich nicht damit auf, ob das was ich sage auf phonetischer und inhaltlicher Ebene perfekt ist. Das führt letzten Endes dazu, dass ich am Ende nichts sage, obwohl ich was zu sagen habe und noch weiter entfernt kann ich von „der Perfektion“ nicht sein.

Heute erwische ich mich immer noch dabei, wie ich in manchen Situationen stumm bleibe, obwohl ich etwas zu sagen habe oder lange Zeit auf ein weises Blatt Papier starre, weil ich es einfach nicht schaffe, einen Text zu beginnen, da mir der Perfekte Satz  einfach nicht einfallen möchte. Aber ich bin immer wieder stolz auf mich, dass ich, obwohl mir der perfekte Satz nicht einfallen möchte, es trotzdem schaffe, den Stift in die Hand zu nehmen, mich vor den Laptop zu setzen und einfach loszulegen.

Ich weiß, dass es nicht das war, worauf der Zettel mit dem doofen Spruch hinaus wollte und doch finde ich es jetzt wiederum total spannend und irgendwie schon fast lustig, dass ein solches Stück Papier es gleichzeitig geschafft hat, mich in eine Identitätskrise zu stürzen, indem es meine Vergangenheit aufgewirbelt hat und mich zu mir selbst finden lässt, indem es mir vor Augen führt, dass der Perfektionismus zu genau dem führt, was ich eigentlich durch ihn vermeiden möchte. Nämlich dass ich verstumme.

Vielleicht ist diese Einsicht das genau die Perfektion, die ich laut Zettel bald erreichen werde. Diese Art der Perfektion ist auch eine, mit der ich sehr gut und gerne zusammenlebe.

Autor*in: Bossi

Ich möchte meine eigene Gruppe etwas anders angehen und die üblichen Runden einer Selbsthilfegruppe mit ein paar innovativen Methoden etwas beleben. Über eben diesen Einsatz von Methoden in der Selbsthilfe, meine Erfahrungen damit und meine persönliche Suchtgeschichte möchte ich im Blog berichten und mich darüber austauschen.

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